Potemkinsches Testament
Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 10)
Zwei Tage lang hatten Politiker und politische Beobachter in Ost und West Zeit, die brisante Ausgabe des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ vom 4. Dezember 1965 zu „verdauen“. Der 4. Dezember 1965 war ein Sonnabend. Am Montag, dem 6. Dezember 1965, würde man reagieren müssen – auf das vielsagende Nebeneinander von Apel-Selbstmord und neuem Handels-„Abkommen“ UdSSR/DDR unter dem ND-Zeitungskopf mit dem netten Marx/Engels-Motto „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“.
Die Annahme, daß Erich Apel sich wegen des vom Kreml der DDR diktierten „langfristigen Handelsabkommens“ erschoß, war eine ohnehin naheliegende Vermutung, eine – wie man heute in der Kriminologie sagt – „quasilogische Konsequenz“ aus den damals allgemein bekannten Tatsachen. Die demonstrative Plazierung der Berichte „Genosse Erich Apel gestorben“ und „Handelsumsatz DDR-Sowjetunion erreicht 60 Milliarden“ unmittelbar nebeneinander auf der ND-Titelseite wirkte wie eine offiziöse Bestätigung dieser Annahme.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland“ (FAZ) setzte denn auch (am 6. Dezember 1965) den ausführlichen Bericht ihrer Berliner Redaktion unter die Titel: „Politische Gründe für Selbstmord Apels? Der Zonen-Planungschef soll sich gegen überhöhte Forderungen Moskaus gewehrt haben“. In Ost- und West-Berlin, schrieb die FAZ, hielten sich „Vermutungen, Apel habe aus politischen Gründen Selbstmord begangen. Es wird vermerkt, daß Apel am gleichen Tag aus dem Leben schied, an dem in Ost-Berlin ein fünf Jahre geltendes Handelsabkommen mit der Sowjetunion unterzeichnet wurde.“ „Der Abschluß dieses Handelsabkommens“, so die FAZ weiter, „hatte sich auffällig verzögert, erst nach dem plötzlichen Berlin-Besuch des sowjetischen Parteichefs Breshnew in der vergangenen Woche war die endgültige Unterzeichnung angekündigt worden“. Es gebe Gerüchte, „die Sowjetunion verlange von der Zone für Rohstofflieferungen überhöhte Preise und wolle Fertigwaren aus der Zone zu Preisen beziehen, die unter den Weltmarktpreisen liegen. Gegen diese Praxis soll sich Apel gewehrt haben“. Die FAZ würdigte auch Erich Apels Reformbemühungen, die „bereits erste Erfolge gezeigt haben“, um dann an das Schicksal von drei anderen „führenden Wirtschaftsfunktionären der Sowjetzone“ zu erinnern, die auch „frühzeitig gestorben“ seien: Gerhart Ziller (Selbstmord 14. Dezember 1957), Heinrich Rau (1961 kurz vor seinem 61.Geburtstag gestorben) und Bruno Leuschner (am 10. Februar 1965 im Alter von 54 Jahren gestorben).
Am Dienstag, dem 7. Dezember 1965, schob die FAZ eine längere biographische Betrachtung aus der Feder von Ernst-Otto Maetzke nach: „Die Zone verliert den besten Planungs-Experten. Zum Tode Erich Apels“; Maetzke meinte, der Handelsdissens zwischen Moskau und Ostberlin allein sei kein hinreichender Grund für Apels Selbstmord. Maetzke informierte die FAZ-Leser über „eine interessante Lücke“ in Apels offiziellem Lebenslauf und versuchte sie mit dem Stichwort „Wehrmachtserprobungsstätte Peenemünde“ zu schließen: Dort sei Apel im Krieg „Ingenieuroffizier“ gewesen. Was DDR-Insider damals über die „interessante Lücke“ wußten, hat Wolfgang Berger (persönlicher Berater Walter Ulbrichts vor allem in Wirtschaftsfragen) 1991 öffentlich skizziert: „Apel hatte für die faschistische Rüstungsindustrie im Außenlager Dora des KZ Buchenwald gearbeitet, wo Tausende KZ-Häftlinge beim Bau der V2 schuften mußten. Einigen von ihnen begegnete er später wieder. Er verstand es nicht, sich mit ihnen offen auszusprechen oder tat dies sehr spät.“ (ND vom 23/24. März 1991, Seite 13).
Erich Apel, am 3. Oktober 1917 im Kreis Sonneberg geboren, hatte bis 1939 an der Ingenieur-Schule Ilmenau studiert und war nach praktischem Militärdienst 1940 zur „Heeresversuchsstelle Peenemünde“ kriegsdienstverpflichtet worden. Als Mitarbeiter Wernher von Brauns wirkte er an der Auslagerung der 1944 durch alliierte Luftangriffe bedrohten Peenemünder Forschungs- und Entwicklungsstätte in den Harz mit. Noch mehr als Wolfgang Berger müssen über Erich Apels Tätigkeit 1944/45 bei der V-Waffen-Entwicklung im Harz „die Freunde“ gewußt haben. Für sie mußte er von 1946 bis 1952 als Ingenieur arbeiten – an technischen Projekten, die unter L.P. Berijas Oberaufsicht und mithin unter Schweigepflicht standen.
Wenn Erich Apel also am Morgen des 3. Dezember 1965 eines Erpressungsversuches wegen aus dem Leben gegangen sein sollte, dann wäre zu bedenken, daß sich das zweifellos brisanteste Erpressungsmaterial in KGB-Tresoren befand. Sollte eines Tages (analog zur „Akte Wehner“) die „Akte Apel“ in Moskau zugänglich sein, dann wird die zeitgeschichtliche Forschung vermutlich mehr wissen als heute (1995). Sieht man von einem dürren, nichtssagenden „Beileidstelegramm aus Moskau“ (ND, 5. Dezember 1965, Seite 1) ab, unter das keiner der Kreml-Oberen seinen Namen gesetzt hatte, dann berührte Apels Tod die sowjetischen Führungskräfte scheinbar nicht weiter. Am 6. Dezember 1965 fand die geplante Plenartagung des ZK der KPdSU in Moskau statt. Das ZK billigte den Wirtschafts- und Staatshaushaltsplan für 1966. Nachdem die DDR am 3. Dezember außer dem „langfristigen Handelsabkommen“ 1966 bis 1970 auch das „Jahresprotokoll 1966“ endlich unterschrieben hatte, war die Verabschiedung der sowjetischen Pläne für 1966 nur noch eine Formsache.
Wer indes die Moskauer Meldung genau las, entdeckte eine kleine Sensation. Das ZK der KPdSU, meldete die „Prawda“ am 7. Dezember 1965, habe auch beschlossen, das „Komitee für Partei- und Staatskontrolle“ in ein „Komitee für Volkskontrolle“ umzuwandeln. Dieser Verwandlung bescheinigte „Kreml-Astrologe“ Wolfgang Leonhard (am 17. Dezember 1965 auf Seite 4 der „Zeit“), sie habe „dramatische Akzente“. Leiter des Ende 1962 entstandenen „Komitees für Partei- und Staatskontrolle“ sei nämlich Schelepin gewesen, “der 47jährige ehemalige Komsomolführer, der von 1958 bis 1961 sowjetischer Staatssicherheitschef war“. Manches spreche dafür, daß „Schelepin seine Befugnisse überschritten hat. Es scheint, daß er sich sehr stark in die internen Angelegenheiten des sowjetischen Parteiapparates einmischte und außerdem versuchte, das Komitee als ´Hausmacht´ im Kampf um eine Spitzenposition zu benutzen.“ Breshnews Kritik an Schelepin übersetzte Leonhard so: „Man muß auch die Tatsache in Betracht ziehen, daß die Organe der Volkskontrolle nicht die Arbeit der Parteiorganisation kontrollieren.“ Titel des Leonhard-Aufsatzes: „Breshnew spielt sich nach vorn / Die Hintergründe des letzten Revirements im Kreml“.
Hintergründe! Abgründe? Welche Blößen hatte Schelepin sich gegeben, daß Breshnew ihm das Sprungbrett „Parteikontrolle“ einfach wegnehmen konnte? Gehörte Apels Flucht in den Tod zu den „Blößen“ des KGB-Duos Schelepin/Semitschastny? Schelepin als Sündenbock für Erich Apels politischen Selbstmord? Schelepin blieb im KPdSU-Präsidium (Politbüro), jener Kreml-Riege, die sich kollektiv als unfähig erwiesen hatte, die DDR-Wirtschaftsreform-Bestrebungen als eine Chance auch für die UdSSR zu begreifen.
Dabei war ab Sommer 1964 Zeit und Gelegenheit gewesen, den Zusammenhang zwischen den wissenschaftlich-technischen Modernisierungsplänen, der DDR und deren Außenhandelsstruktur zu begreifen. Bereits am 2. Juli 1964 hatte sich eine spezielle „Kommission des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrates der DDR zur Ausarbeitung des Perspektivplanes 1964 bis 1970“ mit diesem Zusammenhang befaßt. Ulbricht und Apel hatten ihre Vorstellungen geäußert. Natürlich wußte Ulbricht, daß ich maßgeblich an der Ausarbeitung des Jugendkommuniqués „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ vom September 1963 beteiligt war. Vermutlich deshalb bekam ich zwischen Herbst 1963 und Spätsommer 1964 das eine oder andere „Parteiinterne Material“, das ich als Mitglied des ND-Redaktionskollegiums nicht erhalten hätte.
Auch die Apel-Rede vom 2. Juli 1964 kam mir unter die Augen. Apel verlangte in dieser Rede gleich mehrfach eine Ausweitung des Handels mit kapitalistischen Ländern. Nur so sah der Realist eine Chance zur Modernisierung der DDR-Wirtschaft. Diese damals noch reale Chance wurde mit dem im 3. Dezember 1965 unterzeichneten „langfristigen Handelsabkommen DDR-Sowjetunion“ kurzsichtig vertan.
Am Abend des 6. Dezember 1965 sagte Willy Brandt, damals Westberlins Bürgermeister, auf einer Pressekonferenz wörtlich: „Erich Apel ist nicht schweigend ins Grab gegangen; wir werden alle noch von ihm hören – von dem, was ihn bewegt und besorgt hat.“ Mit dieser nebulösen Bemerkung war ein Medienereignis geboren, das ab 8. Dezember für Schlagzeilen sorgte und zu einer wochenlangen wüsten Polemik zwischen den Medien der DDR und der BRD führte. „Gibt es ein Memorandum von Apel?“, fragte die FAZ am 8. Dezember auf ihrer Titelseite. Andere Medien sprachen von einem „Testament“ Auch von einem testamentarischen „Tonband“ war die Rede.
Doch niemand konnte etwas Konkretes vorweisen. Erst am 15. Dezember 1965 (am Tag der Eröffnung des 11. Plenums!) wußte „Die Welt“ etwas mehr. Unter der Hauptschlagzeile „Zonenbehörden hintergingen die Sowjets“ veröffentlichte Springers „seriöseste“ Tageszeitung auf den Seiten 1 und 2 einen ungewöhnlichen langen Aufsatz aus der Feder von Stephan G. Thomas, Leiter des Ostbüros der SPD. Thomas, der schon in den dreißiger Jahren für den britischen Geheimdienst in Deutschland gewirkt hatte, kannte aus dieser Zeit zahlreiche (inzwischen in der SPD und SED führende) Funktionäre. Thomas wird Willy Brandt “Apel-Material“ angekündigt haben. Im „Welt“-Aufsalz präsentierte er dann einige Wirtschaftszahlen, die höchstwahrscheinlich aus Apels Notizbuch stammten.
Beinahe jeder ordentliche SED-Funktionär hatte ein Notizbuch, in das er die mündlichen Informationen und Anweisungen seiner Oberen (mit Datum!) schrieb, in dem er aber auch eigene Gedanken für etwaige Diskussionsbeiträge festhielt. Auf Fremde konnte solch ein Notizbuch wie ein Tagebuch wirken. Und vermutlich war selbst Thomas nicht klar, was er da zu sehen bekommen hatte. Als Erich Apel sich am 3. Dezember 1965 In seinem Dienstzimmer in der Staatlichen Plankommission (damals „Haus der Ministerien“,Leipziger Straße, später Sitz der „Treuhand“) erschoß, mußte das MfS nicht erst gerufen worden. Es war schon da. Apel hatte Leibwächter – natürlich vom MfS. Mielkes Leute hatten alles sicherzustellen – den Leichnam, die Waffe und die vorhanden Papiere, auch Erich Apels Panzerschrank-Inhalte und das Notizbuch…
„Es war eine düstere Atmosphäre auf diesem Plenum“, schreibt Christa Wolf in ihrem (bereits .erwähnten) „Erinnerungsbericht“ („Kahlschlag“, Seite 265). „Man sagte gleich am Anfang, man könnte das Tagebuch von Erich Apel einsehen, wenn man wollte… Ich werfe mir noch heute vor, daß ich nicht den Mut hatte zu sagen, ich möchte das mal lesen, Keiner hatte es gemacht, aber ich hätte es machen sollen.“ Gibt es das „Tagebuch“ (Notizbuch) noch? Und wenn ja: Stammen die Zahlen, die Thomas am 13. Dezember 1965 in „Die Welt“ verwendete, aus diesem Notizbuch? Und wann ja: Wie konnte Thomas in ein Notizbuch schauen, das am gleichen 13. Dezember 1965 im „Büro des SED-Politbüros“ zur Einsicht bereitgelegen haben muß für Teilnehmer am 11. SED-ZK-Plenum, denen eine solche Einsicht ausdrücklich angeboten wurde? Wurde etwa Apels Notizbuch mit Ulbrichts Wissen dem Leiter des SPD-Ostbüros kurz vor dem 15. Dezember zur kurzen Einsichtnahme zugespielt, damit „der Westen“ „Wirbel“ mache wegen der überhöhten Rohstoffpreise, die Moskau der DDR abverlangte?
Zitat aus dem „Welt“-Artikel von Stephan Thomas (der ein alter Bekannter des polnischen „Nationalkommunisten“ Wladislaw Gomulka gewesen sein soll): „Sowjetischer Kommunismus kennt nur einen Maßstab – den Vorteil der Sowjetunion. Der Vorteil der Sowjetunion indes ist nicht der Vorteil der Deutschen, selbst nicht der deutschen Kommunisten. Deshalb mußte Dr. Apel, ob er es wollte oder nicht, in Widerspruch mit der Zentrale in Pankow und Moskau geraten… Die unzähligen kleinen und großen Dr. Apels, sie werden ein notwendiger Faktor sein, wenn es darum geht, einmal die gesamtdeutsche Bilanz zu ziehen.“
Wahrend in Berlin das berüchtigte 11. Plenum anlief, faßte im sowjetischen Sternenstädtchen Sergej Koroljow, der Promotor der damals ungemein erfolgreichen sowjetischen Raumfahrt, den Entschluß, sein Krebsgeschwür endlich operieren zu lassen. Am 14. Januar 1966 starb Koroljow wahrend der Operation an Herzversagen. Apel und Koroljow waren einander nicht unbekannt. Eigentümlicher Zufall, daß diese praktischen Verfechter eines produktiven Sozialismus so kurz hintereinander ihr aufreibendes Leben beendeten.
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