Schwarzer-Peter-Spiel
Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 12)
Ende 1990, gleichsam zum „25. Jahrestag des 11. Plenums“, hatte ich doppelten Anlaß, die in meinem Pankower Bücher-Keller gesammelten Unterlagen aus den sechziger Jähren genau durchzusehen und sorgsamer zu archivieren: Erstens kam aus der PDS-Zentrale das 30seitige hektographierte Papier „Die 11. Tagung des ZK der SED (15.-18. Dezember 1965) – Ein Angebot zur Diskussion“. Und zweitens eröffnete sich mir die Aussicht, in einem großen Hamburger Verlag einen Dokumentarbericht über das Jugendkommuniqué „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ vom September 1963 und über dessen Verdammung auf dem 11. Plenum zu veröffentlichen.
Auf das PDS-Papier hatte „Neues Deutschland“ in seiner Ausgabe vom 15./16. Dezember 1990 mit einer einspaltigen Randnotiz hingewiesen. Man roch es förmlich: Der PDS-nahen „Sozialistischen Tageszeitung“ war das Thema 11. Plenum nicht geheuer. Zudem hatte selbst ich als Betroffener von 1965/66 Mühe, das PDS- „Angebot zur Diskussion“ überhaupt zu bekommen. Klaus Höpcke besorgte mir ein Exemplar dieser „geschichtlichen Analyse“. Sie war in mehrfacher Hinsicht enttäuschend.
Das PDS-Papier förderte die falsche Ansicht, das 11. Plenum sei eine von der „stalinistischen SED-Führung“ inszenierte Veranstaltung zur kulturpolitischen Repression gewesen. Der komplex restaurative Charakter des 11. Plenums blieb ebenso unterbelichtet wie die Moskauer Urheberschaft an den „Oktoberstürmen“ des Herbstes 1965 in der DDR. Ganz offensichtlich nahmen die PDS-„Geschichtsaufarbeiter“ geradezu devot Rücksicht auf die sowjetische „Bruderpartei“, die ja Ende 1990 noch vom „Hoffnungsträger“ Michael Gorbatschow „geführt“ wurde. Dem PDS-Papier zufolge gab es nur künstlerische bzw. kulturpolitische Opfer des 11. Plenums. So signalisierte man auch, daß eine wirkliche Diskussion mit allen Betroffenen nicht erwünscht war. Kurt Turba bekam das PDS-Papier nicht!
Der Hamburger Verlag erhielt von mir ein ausführliches Exposé zu einem Dokumentarbericht „Das Jugendkommuniqué“. Wohl wissend, wie schwer es einem altbundesdeutschen Verleger fallen würde, in Walter Ulbricht nicht nur einen „Zonen-Diktator von Moskaus Gnaden“, sondern auch den zeitweiligen Mentor entschiedener Sozialismus-Erneuerer zu sehen, hatte ich das Exposé mit entsprechenden leicht nachprüfbaren Tatsachen angereichert. Doch ich bekam eine zwar im Stile von „Political correctness“ freundlich gewundene, aber unmißverständliche Absage. So schnell wollten die liberalen Vordenker unserer lieben Landsleute im Westen ihre noch lieberen Geschichtsklischees, nicht „durcheinanderbringen“ lassen.
„Einige dürften überrascht sein“, schrieb mir Herr Dr. Michael Naumann von „Rowohlt“ am 5. März 1991, „daß ausgerechnet unter Walter Ulbricht eine reformistische Gruppe bzw. reformistische Parteikräfte sich entfalten konnten oder wollten. Anderen mag der Glaube fehlen“. Ich nehme Herrn Naumann keineswegs übel, daß ihm West-Glaube wichtiger war als Ost-Wissen. Nur: Mit zeitgeschichtlicher „Correctness“ haben solche Glaubensregeln nichts zu tun. Eher mit „kapitalgestützter Selbstüberschätzung“ – mit „Nadelstreifen-Besserwisserei“, die so freiheitlich und tolerant nicht ist, wie sie sich zu geben pflegt.
Mit dem Stichwort „Besserwisser“ bin ich flugs wieder bei den Erinnerungen an das Jahr 1965. „In ihrer „Diskussionsrede“ auf dem 11. Plenum sprach Hanna Wolf auch über den „Artikel von Turba und Wessel über die Besserwisser, der im ´Neuen Deutschland´ veröffentlicht war. So etwas verwirrt. Solche Artikel schaffen uns das Generationsproblem und die sogenannte Freiheit der Kritik an der Partei. Das ist meine Meinung, Genossen.“ An dieser Stelle rief Erich Honecker: „Das haben wir auch im Sekretariat kritisiert.“ Und Hanna Wolf fuhr wörtlich fort: „Dann bitte ich um Entschuldigung, daß ich es noch einmal gesagt habe.“
Den Absatz ihrer Rede, in dem sie den „Artikel von Turba und Wessel über die Besserwisser“ gleichsam als parteiwidrig anprangerte, hatte Hanna Wolf so begonnen: „Ich möchte auch noch andere Fragen stellen: Im Bericht des Politbüros wurden die Probleme der Jugend sehr richtig dargelegt, und der Genosse Walter Ulbricht hat heute gesagt – damit bin ich vollkommen einverstanden -, daß wir keine Jugenddiskussion führen wollen. Aber auch in dieser Frage müssen wir eine einheitliche Linie haben. Und das gab es in der letzten Zeit nicht, auch nicht in einigen zentralen Stellen der Partei.“ Hanna Wolf prangerte also nicht nur den „Artikel von Turba und Wessel über die Besserwisser“ an, sondern auch die Führungstätigkeit „des Genossen Walter Ulbricht“, der ja als SED-Generalsekretär zuständig war für die „zentralen Stellen der Partei“.
Im Unterschied zu Hanna Wolf hielt sich die Arbeitsgruppe, die im ZK-Apparat die Reden für den Abdruck im ND „zurechtstutzte“, an Ulbrichts Weisung, „daß wir keine Jugenddiskussion führen wollen“. In allen DDR-Medien wurde denn auch Hanna Wolfs Rede ohne ihre „schönsten“ Stellen wiedergegeben: ohne ihre Angriffe auf Hermann Axen, ohne den Zwischenruf von Kurt Hager (der Stefan Heym gegen allzu grobe Angriffe der Rednerin verteidigte]) und ohne Hanna Wolfs Ausfall gegen die vom Plenum ausgesperrten Artikelschreiber Turba und Wessel. Nur eine Ausnahme gab es, die Hermann Axen ermöglicht hatte, als er am Abend des 18. Dezember 1965 mir zuraunte: „Mach damit, was Du willst!“
Ich hatte in dieser Nacht keine Möglichkeit, Kurt Turba anzurufen. Die Art der Wiedergabe der Hanna-Wolf-Rede im ND geht also „voll auf meine Kappe“. Ich strich auf den Blättern des Originalprotokolls, die Axen mir gegeben hatte, alle Angriffe Hanna Wolfs auf Axen. Ich strich (gemäß der Vorgabe der Arbeitsgruppe) die Hager-Wolf-Kontroverse; denn Kurt Hager zu konsultieren blieb keine Zeit. Doch Hanna Wolfs Attacke auf Turba und Wessel, die zugleich ein Angriff auf Ulbricht war, gab ich ungekürzt in Satz. Man konnte sie in „Neues Deutschland“ (und damals nur in „Neues Deutschland“) vom 19. Dezember 1965 auf der letzten (zwölften) Seite nachlesen. Mit einem kleinen „leserfreundlichen“ Zusatz: Hinter Hanna Wolfs Attacke auf den „Artikel von Turba und Wessel über die Besserwisser“ hatte ich eine Klammer eingefügt („ND 11.4.1965“).
Mein Verstoß gegen die Festlegungen der Arbeitsgruppe hatte einen tieferen Sinn. Die ND-lesenden SED-Mitglieder erfuhren auf diese Weise
– daß Ulbricht auf dem 11. Plenum keine Jugenddiskussion (also keine Diskussion gegen das von ihm favorisierte Jugendkommuniqué) haben wollte,
– daß Hanna Wolf diesen Ulbricht-Wunsch mißachtete,
– daß sie einen acht Monate alten Turba-Wessel-Aufsatz bemühte, um Ulbricht ziemlich unverhohlen „Führungsschwäche“ vorzuwerfen,
– und daß also hinter den Kulissen der zentral zensurierten „Berichterstattung“ über das 11. Plenum ein komplexer Richtungs- und Machtkampf zwischen Ulbricht und einigen als besonders sowjetfreundlich bekannten SED-Genossen stattfand.
Spätestens seit Mitte November 1965 hatte der von Schelepin/Breshnew/Semitschastny bedrängte SED-Chef Ulbricht eine Art Prioritätenliste im Kopf – genauer: eine Rangfolge der gegen Moskau zu verteidigenden Essentials. An der Spitze dieser Rangliste stand Ulbrichts „eigene Haut“, gefolgt vom „Neuen Ökonomischem System“ (NÖS), Jugendkommuniquè, Jugend- und Bildungs- und Familiengesetz, Selbstbestimmung in der Deutschlandpolitik, „Bitterfelder Weg“ (für W.U. identisch mit „mehr Freiräume für die Kunst und Kultur“) und „Medienreform“ (mit deutsch-deutschem Zeitungsaustausch als Hintergedanken). Je nach Stärke der Bedrängnis, in die Ulbricht geriet, war der gewiefte Taktiker bereit, Essentials (und deren Träger) preiszugeben. Das ist der Hintergrund des Schwarzer-Peter-Spiels vor und auf und nach dem 11. Plenum des ZK der SED.
Die Stärke der Bedrängnis durch Moskau (und durch dessen Gefolgsleute in der SED-Führung) war nicht zu jedem Zeitpunkt gleich. Als Botschafter Abrassimow Ulbricht den überraschenden Breshnew-Blitzbesuch vom 27. bis 29. November 1965 ankündigte, mußte Ulbricht „um die eigene Haut“ fürchten. Rasch signalisierte er dem Kreml „Opferbereitschaft“. Während ich mit der Volksbildungsministerin nach Potsdam fuhr (25. November 1965) und Axen – vermutlich auf Anweisung Ulbrichts – das schlimme, Klemm-Gespräch aus Leipzig zum Druck befahl, traf Ulbricht selbst sich kurzfristig im Staatsrat mit „Kulturschaffenden“ – zu der „Nikotinbrauner-Mittelfinger“-Aussprache.
Zu anderer Zeit hätte der bärtige Sachse sich über den „nikotinbraunen Mittelfinger“, mit dem ein „Held“ in Werner Bräunigs Wismut-Roman „Rummelplatz“ dort tätig wird, wo ein Gynäkologe nur mit Gummihandschuhen „operiert“, vielleicht selbst amüsiert. Jetzt aber, Breshnew im Anmarsch, paßt gerade ein Wismut-Roman, um dem erzürnten Kremlchef sowohl „freudige DDR-Lieferbereitschaft“ (z.B. Uran) als auch „konsequenten Kampf gegen Pornographie, Dekadenz und Jugendverführung“ zu signalisieren. Die Künstler sind natürlich entsetzt über Ulbrichts rüde borniertes „Kunstverständnis“. Einige von ihnen aber glauben den „Schwarzen Peter“ dadurch loswerden zu können, daß sie ihn der Jugendpolitik des Jugendkommuniqués zuzuschieben versuchen.
Ich muß hier klarstellen: Weder Turba noch Wessel haben sich am „Schwarzer-Peter-Spiel“ beteiligt. Wir warnten unsere „Forum“-Freunde davor, sich an dem makabren Spiel zu beteiligen: „Kultur- oder Jugendpolitik? Wer bekommt den Schwarzen Peter?“ Ein eigenartiges Opfer dieses Spiels wurde am 4. Dezember 1965 ND-Kultur-Redakteur Klaus Höpcke. Er hatte unter dem Goethe-Motto „Ihr laßt den Armen schuldig werden. Dann überlaßt ihr ihn der Pein“ einen die reformerische Jugendpolitik verteidigenden Artikel geschrieben: „Zugucken oder eingreifen? Mithilfe besser als Mitleid“ (ND vom 5. Dezember 1965, Seite 3): Höpckes Artikel erschien unter dem Pseudonym Johannes Necke.
In der gleichen ND-Ausgabe (5. Dezember 1965) befand sich der seither oft kritisierte Anti-Biermann-Aufsatz „…der nichts so fürchtet wie Verantwortung“. Auch ihn hatte Höpcke zu Papier gebracht, aber erstens nicht aus eigenem Antrieb und zweitens nicht in der dann gedruckten Fassung. Alles sprach dafür, daß Axen, der den Anti-Biermann-Aufsatz bei Höpcke orderte und ihn verschärfte, im Auftrage Ulbrichts handelte. Axen bestand auch darauf, daß der Anti-Biermann-Aufsatz mit Höpckes Klarnamen und der jugendpolitische Aufsatz unter Pseudonym gedruckt wurden.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Ulbricht den schlimmen Handelsvertrag mit Moskau geschluckt und seinen NÖS-Promotor Erich Apel durch dessen Selbstmord verloren. Ulbricht war bereit, den „Wölfen“ Medien und Kunstwerke „zum Fraß vorzuwerfen“, aber zugleich gewillt, seine eigene Haut, das NÖS und vor allem seine Jugendpolitik mit allen Mitteln (und Tricks) zu verteidigen. Nach Schelepins Machtverlust am 6. Dezember 1965 in Moskau muß sich Ulbrichts Bedrängnis etwas gelockert haben, Während Honeckers Hoffnung, Ulbricht schon auf dem 11. Plenum zu „beerben“, einen Dämpfer erhalten hatte. Ulbricht fühlte sich wieder stark genug, eine „Jugenddiskussion“ auf dem 11. Plenum zu untersagen…
Erst rund 25 Jahre nach dem 11 ..Plenum habe ich erfahren, daß nicht nur Hanna Wolf, sondern auch Inge Lange Ulbrichts Gebot „Keine Jugenddiskussion!“ mißachtete. Während man bei Hanna Wolf noch annehmen konnte, ihr sprichwörtliches „Temperament“ sei mit ihr durchgegangen, muß man im Falle Inge Lange davon ausgehen, daß sie zu der Attacke auf Turba, Wessel und zur Mißachtung des Ulbricht-Gebotes „angestiftet“ und /oder ermutigt worden ist. Inge-Lange-Passagen, die 1965 von der Arbeitsgruppe im ZK gestrichen wurden, die aber im ZK-Protokoll stehen: „Ich möchte doch hoch etwas zur Jugendpolitik sagen. Ich bin auch nicht für eine Diskussion. Ich bin aber sehr froh darüber, was Erich Honecker gesagt hat in seinem Bericht, weil das. unbedingt gesagt werden mußte… Schließlich war man selber jahrelang FDJ-Funktionär, hat sich etliche Paar Schuhe im Jugendverband abgelaufen… Die andere Seite ist die, daß Leute aufgekreuzt sind, die in ihrem Leben nie etwas mit der Jugendarbeit zu tun gehabt haben.“
Mit den „aufgekreuzten Leuten“ meinte Inge Lange offenbar solche Mitglieder der von Turba geleiteten Jugendkommission wie Brigitte Reimann und mich, weil wir (im Unterschied zu Turba) wirklich nie den FDJ-Zentralratsapparat von innen hatten „genießen“ dürfen. Diese „aufgekreuzten Leute“, so Inge Lange weiter, „haben sich das Kommuniqué unter den Nägel gerissen… Es hat viele Genossen gegeben, die sich nicht mehr getrauten, etwas zur Jugend zu sagen… Eine ganze Reihe verantwortlicher Genossen, voran der Genosse Turba, haben diese Politik mitgemacht (Zuruf Margot Honecker: Gemacht!).“
Nächste Folge: Ein falscher Prophet