Taiga-Trommler

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 11)

Nie zuvor und nie wieder habe ich Hermann Axen so nervös, zerfahren und mental beschädigt gesehen wie am Abend des 18. Dezember 1965. Die 11. Plenartagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (kurz „Das 11. Plenum“ genannt) war vom 15. bis 17. Dezember 1965 geplant. Da aber neben den vier (meist „endlosen“) Referaten kaum Zeit zur „Diskussion“ blieb, wurde die Tagung am Sonnabend, dem 18. Dezember 1965, fortgesetzt und (wer wollte schon den Sonntag opfern!) noch rechtzeitig zur Heimfahrt der Teilnehmer beendet. Für „Neues Deutschland“ jedoch und seinen Chef Axen war damit keineswegs Feierabend.

Zettel von Hanna Wolf, Rektorin der SED-Parteihochschule für Hermann Axen, ND-Chefredakteur, für die Wiedergabe ihres Diskussionsbeitrages auf dem 11. Plenum

Seit dem VI. SED-Parteitag vom Januar 1963 hatte es nicht an Versuchen gefehlt, die ritualisierten Tagungen und Konferenzen zu rationalisieren. Zu den in den zwanziger Jahren von der Komintern-Zentrale (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale) entwickelten Sitzungsritualen gehörte der Brauch, Macht und Einfluß durch langes Reden zu demonstrieren. Da aber die in den Apparaten mächtigsten Leute nicht unbedingt die gescheitesten waren, entwickelte sich mit der Bürokratie eine ritualisierte Redundanz: „russisch orthodoxer“ Berichtsbarock – informationsarm, aber von üppiger, wortreicher Aufdringlichkeit. Schon Majakowski hatte solche Entfremdung von der revolutionären Idee satirisch, aber vergeblich angeprangert.

In der SED der frühen sechziger Jahre gab es also mehrfach Vorstöße vernünftiger Funktionäre, die endlosen Rechenschaftsberichte und Planentwurfsreden nicht mehr zu verlesen, sondern den Teilnehmern vor den Zusammenkünften schriftlich zuzustellen, damit auf solchen Zusammenkünften wirklich (und möglichst nicht vom Blatt) diskutiert hätte werden können. Zugleich sollten die Zeitungen, auch das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“, von der Pflicht zum Abdruck der redundanten Texte befreit werden. In unserem 1964er Entwurf zur Verbesserung des ND waren „Faltbeilagen“ für interessierte Leser (vielleicht zehn Prozent der Abonnenten) vorgesehen, um das Blatt vom zeitungswidrigen bürokratischen Wust zu entlasten.

Mit dem 11. Plenum gingen diese vernünftigen Bestrebungen in die Brüche. Vom „Oktobersturm“ wurden sie „verweht“. Ob Axen und die ND-Redakteure wollten oder nicht – eine von Honecker instruierte „Arbeitsgruppe“ im ZK-Apparat bestimmte bis ins letzte Detail, wie das ND (und die anderen Medien der DDR) über das 11. Plenum zu informieren hatte – zum Beispiel Abdruck des von Honecker „erstatteten“ „Berichts des Politbüros“ auf fünfeinhalb Zeitungsseiten der achtseitigen ND-Ausgabe vom 16. Dezember 1965! Reinster Jahrmarkt der Eitelkeit, Machtanspruch per Papierverschwendung…

Byzantinistische Papierverschwendung: auf fünfeinhalb Seiten mußte ND den Bericht des SED-Politbüros drucken, den Erich Honecker auf dem 11. Plenum verlas

Dem SED-Zentralorgan wurden keine eigenen Berichte gestattet. Die eingeteilten „Berichterstatter“ sahen sich (sofern sie überhaupt in die von Mielkes Mannen abgesperrte Tagungsstätte gelassen wurden) unversehens in manuskriptkuverttragende Eilboten verwandelt, die zwischen dem „Haus des Zentralkomitees“ am Berliner Marx-Engels-Platz und der ND-Redaktion in der Mauerstraße hin- und herflitzten, um immer neue Fassungen der zu druckenden „Dokumente“ herbeizuschaffen. Als Axen am 18. Dezember 1965 vom Plenum in die Redaktion kam, brachte auch er „Dokumente“ mit – „Druckfassungen“ von zur Veröffentlichung bestimmten Diskussionsreden, darunter die „der Genossin Hanna Wolf, Mitglied des ZK“ (und Direktorin der SED-Parteihochschule).

Axen nahm mich beiseite, blätterte wortlos das Wolf-Manuskript durch und tippte auf Textpassagen, in denen die eher emotional als rational veranlagte Rednerin Stefan Heym und Robert Havemann, ferner (gleich mehrfach) Hermann Axen (wegen „mangelnder politischer Wachsamkeit“ und schließlich „Turba und Wessel“ (wegen eines acht Monate zurückliegenden ND-Artikels) scharf kritisierte. Dann gab Axen mir einige Seiten des originalen ZK-Protokolls (von der Hanna-Wolf-Rede) und einen Zettel, auf dem Hanna Wolf mit rotem Kugelschreiber vermerkt hatte: »L. Gen. Axen! Wenn veröffentlicht werden soll, bitte ich den Abschnitt, den ich in rote Klammern gesetzt habe – S. 247-248 – wegzulassen. H. Wolf“.

Ich war an diesem Tag nicht zur „Insatzgabe“ eingeteilt, sondern gehörte zur „Reserve“ für das „Korrekturlesen“. Indem Axen den Hanna-Wolf-Zettel bei mir „liegenließ“, gab er mir die Möglichkeit, die „Festlegungen der Arbeitsgruppe“ an einem Punkt zu unterlaufen; denn die Wolf-Wünsche waren mit den „Festlegungen“ nicht identisch, und außerdem waren die „roten Klammern“ nicht eindeutig.

„Mach‘ damit, was du willst“, sagte Axen zu mir. Unser erstes Gespräch seit dem Telefonat am 25. November 1965, in dem wir uns wechselseitig „Zurückweichen“ vorgeworfen hatten. Und da seine Hände zitterten, nahm ich die Wolf-Papiere, versprach ihm, mich darum zu kümmern, riet ihm, nach Hause zu fahren, sich auszuruhen und „morgen vormittag“ nachzusehen, „was wir aus dem Zeug gemacht haben“. Bei allen Mißhelligkeiten eines Journalistenlebens – den Vorteil hat es: Jeder, der es wissen will, kann auch Jahrzehnte später noch nachsehen, „was wir aus dem Zeug gemacht haben“.

Natürlich rührte Hermann Axens Nervosität nicht nur daher, daß Hanna Wolf ihn, den von Ulbricht eingesetzten Chefredakteur des SED-Zentralorgans, „vor dem Zentralkomitee“ (und rund 200 Gästen, darunter Vertreter der Ostberliner Sowjetbotschaft und vermutlich der Karlshorster KGB-Filiale) unwidersprochen einer politischen „Todsünde“ geziehen hatte, sondern auch aus dem bedrückenden Gefühl, daß sich „die Partei“, namentlich „die Parteiführung“ spätestens seit Erich Apels Selbstmord in einer tiefen Orientierungskrise befand, die auf „dem Plenum“ nicht offen angesprochen und also eher verschärft als gelöst worden war.

Um es bildhaft zu sagen: Ein Zug fuhr ab; und statt endlich, „in letzter Minute“, in diesen Zug der wissenschaftlich-technischen Revolution einzusteigen, krakeelte man auf dem Bahnsteig herum, pries die alten Panzerzüge mit Sowjetstern und schwor in tonnenideologischer Verblendung auf „schweres Gefährt“ à la „Taiga-Trommel“, mit dem man sicher in die Zukunft gelangen werde…

Mathematiker der Leipziger Karl-Marx-Universität 1963 am ZRA-1, dem ersten programmierbaren Digitalrechner der DDR. Konstruiert wurde er unter Leitung von Wilhelm Kämmerer im VEB „Carl Zeiss“ Jena
Foto: ADN-Zentralbild/ Heinz Koch, Bundesarchiv, Bild 183-B0314-0091-002 / CC-BY-SA 3.0

In welchen Zug die DDR-Wirtschaft einsteigen mußte, um effizient zu werden und zu bleiben, wußte Axen spätesten seit dem 20. Januar 1962. An diesem Tag hatte er seiner Sekretärin Traudel Holzki in meinem Beisein einen Brief an SED-Generalsekretär Walter Ulbricht diktiert. Es war ein Begleitschreiben zu einem 21seitigen „Bericht über Aussprachen mit Wissenschaftlern“. Der auf den 17. Januar 1962 datierte Bericht stammte von mir. Von Axen ermutigt, war ich Anfang Januar 1962 nach Ilmenau, Jena und Leipzig gefahren, um führende Wissenschaftler der DDR fünf Monate nach dem 13. August 1961 (Mauerbau) nach ihrer „ungeschminkten Meinung“ zur Situation und zu den Aussichten der DDR zu fragen.

Die 14 befragten Wissenschaftler waren mehrheitlich Naturforscher und fast durchweg international renommierte Leute. Da ich ihnen sagte, es gehe um einen Problemkatalog „für ganz oben“, bekam ich erstaunlich freimütige Kritiken und konzeptionelle Ansichten zu hören. Besonders bedenkenswert waren die Ideen von Wilhelm Kämmerer – Konstrukteur der ersten programmgesteuerten Rechenautomaten auf dem Gebiet der DDR namens OPREMA (OPtik REchenMAschine) und ZRA-1 (Zeiss-Rechen-Automat 1) sowie Kybernetik-Professor in Jena. Damals war den führenden Ideologen des Marxismus-Leninismus noch aufgegeben, Kybernetik (wie Tiefenpsychologie, Soziologie, Genetik usw.) als „bürgerliche Pseudowissenschaft“ abzuqualifizieren. Auch Honecker war beim Studium in Moskau tiefes Mißtrauen gegenüber Kybernetik und Psychologie „eingeimpft“ worden.

Kämmerer indes hatte man während des Zweiten Weltkrieges zu Zeiss nach Jena geholt, um optische Systeme zu berechnen. Dabei kam ihm die Idee der Rechenautomaten. Wie Apel war Kämmerer nach dem Krieg von der sowjetischen Besatzungsmacht zu Forschungsarbeiten in der UdSSR zwangsverpflichtet worden. Berijas Forschungs- und Entwicklungsprojekte für die Landesverteidigung scherten sich kaum um ideologische Prinzipien. Bis 1954 konnte Kämmerer bei Zeiss/Jena weitermachen – bis ihn eine kurzsichtige Wirtschaftsbürokratie aus dem Betrieb hinausekelte und das erfolgreiche Kämmerer-Kollektiv (rund 400 Konstrukteure, Techniker, Facharbeiter und Programmierer) allen Ernstes auflöste.

Man versprach dem begnadeten Gelehrten ein „Zentralinstitut für Automatisierung“ in Jena, baute aber erst einmal ein Institut, das offenbar neue Uranvorkommen in der DDR zu suchen hatte. Nachdem Moskau die Einstellung der DDR-Flugzeug-Produktion verfügt hatte, sollte Kämmerers „Automatisierungsinstitut“ in den leerstehenden Hangars bei Dresden eingerichtet werden.

Als ich Kämmerer im Januar 1962 in Jena besuchte, befand er sich „in äußerst bedrückter Stimmung“ (Seite 10 meines Berichtes für Axen und Ulbricht). Dennoch entwickelte der Kybernetik-Professor im Verlaufe unseres Gesprächs faszinierende Visionen. Es habe sich gezeigt, erzählte er, daß einfallsreiche junge Leute mit dem ZRA-1 (noch drei Schränke groß) und dem ZRA-2 (nur noch einen Schrank groß) nicht nur alle Rechenarbeiten für Zeiss, sondern auch Optimierungsaufgaben anderer Betriebe und beispielsweise des gesamten volkseigenen Handels im Bezirk Gera bewältigen können. Überhaupt sei eine moderne Planung, die diesen Namen verdiene, erst mit Rechenautomaten möglich. Und andererseits gebe es keinen sinnvolleren Einsatz für die Rechenautomaten der Zukunft als bei der soliden-, illusionslosen Berechnung gesamtgesellschaftlicher Planungs- und Entwicklungsvarianten.

Kämmerers Warnungen vor weiterem Zeitverlust auf dem lebenswichtigen Gebiet des Einsatzes von Rechenautomaten in der DDR waren im Bericht, der damit zu einer Art Memorandum wurde, „knallhart“ wiedergegeben. Axen hat das gelesen und „voll durchgeholt“, bevor er sich (nach einigem Zögern) entschloß, den Bericht ohne inhaltliche Änderungen an Ulbricht zu schicken. Und Ulbricht war nicht etwa empört, sondern ließ via Axen Dank sagen. Einiges, von Kämmerers Warnungen und Visionen hat offensichtlich dazu beigetragen, daß Ulbricht zwischen 1962/63 und 1965 „an Moskau vorbei“ die DDR-Wirtschaft modernisieren und partiell reformieren wollte. Auch nach dem 11. Plenum pflegte der bärtige Sachse an der „trivialkybernetischen Terminologie“ festzuhalten, die er sich ab 1962/63 angeeignet hatte.

Damals erschienen zwei junge Mathematiker in der Wissenschaftsredaktion von „Neues Deutschland“. Sie hatten für einen Berliner Metallbetrieb den Blechteile-Zuschnitt optimiert und „über Nacht“ beträchtliche Materialeinsparungen bewirkt. Bei rechnergestützter Planung seien riesenhaft größere Gewinne möglich. Entschiedene Reformer diskutierten damals die Idee einer „alternativen Plankommission“ zunächst neben der bestehenden „Staatlichen Plankommission“, die kaum ein Feedback kannte und „selbstregulierende Teilsysteme“ vermutlich für eine Teufelei gehalten hat.

In der „alternativen Plankommission“ hätten kreative junge Leute (Mathematiker, Programmierer, Planungs-„Opfer“ usw.) das schaffen können, was Erich Apel (außer Kapital, Ressourcen und Handlungsspielraum) vor allem fehlte: neues Know-how für das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL). Vermutlich hätte die „alternative Plankommission“ die überkommene „Staatliche Plankommission“ nach wenigen Jahren überflüssig gemacht und die dort beschäftigten „Planer“ von ihrer ungeliebten Tätigkeit befreit.

Über die eigenartigen Protestformen in der „Staatlichen Plankommission“ gab es damals ja herrliche Gerüchte: Ein gewichtiger Mitarbeiter soll immer dann, wenn wieder mal „der ganze Plan hinfällig“ wurde, „aus Protest“ barfuß über die langen Korridore gelaufen sein… Ein anderer soll alles mögliche versucht haben, um rauszufliegen. Er wollte lieber Bibliothekar sein, in einer Abteilung für internationale und speziell russische Märchen.

Mit Erich Apels Tod und Erich Honeckers Referat auf dem 11. Plenum zerstoben alle „rechnergestützten“ Visionen und Illusionen. Die „Taiga-Trommel“ dröhnte, und Hermann Axen fürchtete (nicht zu Unrecht, wie wir noch sehen werden), im Macht- und Richtungsstreit zwischen Breshnew/Honecker einerseits und Ulbricht andererseits als „Sündenbock“ geopfert zu werden.

Nächste Folge: Schwarzer-Peter-Spiel