„Ulbricht macht das Tor auf“

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 14)

„Ulbricht macht das Tor auf…“ Diese fünf Worte einer inhaltsschweren Aussage standen am 28. April 1965 auf Seite 46 des Heftes 18/65 des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Mehr oder weniger arglos hatten Rudolf Augsteins Mannen die Dieter-Wolf-Reportage „Die kleine Stadt will nicht schlafen gehen“ aus „Neues Deutschland“ vom 2. April 1965 (Seite 3) zu einer Spiegel-Story „verarbeitet“ und dabei hochpolitisch „angereichert“. Es ging um das bereits erwähnte Jugend-Wochenende vom 27./28. März 1965 in der mecklenburgischen Kreisstadt Demmin. Die von Kurt Turba geleitete SED-Jugendkommission hatte das Jugend-Wochenende organisiert. Wir waren vor Ort, Walter Ulbricht natürlich nicht. Doch das Wochenend-Programm hatte Turba ihm gegeben.

ND-Bericht vom 2. April 1965 über das Jugend-Wochenende in Demmin

Vielleicht war „Der Spiegel“ sauer, weil wir ihn nicht nach Demmin eingeladen hatten? Doch dieses Los teilte er mit anderen bundesdeutschen und ausländischen Medien. Die hätten die offenen Diskussionen mit der Demminer Jugend nur gestört. Und Augstein zum Trost: Sogar die Sowjetpresse und die regionalen Repräsentanten der Sowjetarmee waren nicht ausdrücklich in die kleine .Stadt gebeten worden, die „nicht schlafen gehen“ wollte. Es kann aber auch sein, daß den „Spiegel“-Leuten der ND-Bericht von Dieter Wolf nebst den Fotos von Thomas Billhardt gerade recht kam, um ein journalistisches Loch zu stopfen. Und da „Der Spiegel“ marktgerecht (Reklame-Quoten) sein muß, wurde der ND-Bericht per „Sensation“ auf die gigantischen geistigen Höhen der „Spiegel“-Masche gehoben: „Ulbricht macht das Tor auf…“

Wieviele „Spiegel“ im Frühjahr 1965, knapp vier Jahre nach dem Mauerbau, offiziell in die DDR eingeführt wurden, könnte die Westberliner Vertriebsfirma genau sagen, die den deutschdeutschen Zeitungshandel über Jahrzehnte zuverlässig in den Händen hatte. Mehr als drei Dutzend „Spiegel“-Exemplare pro Woche dürften es kaum gewesen sein. Ulbricht und Norden bekamen ihn, Honecker und Mielke „werteten ihn aus“, die KGB-Leute in Karlshorst waren scharf auf ihn, und ND-Chef Axen ließ zwei, drei „Spiegel“-ExempIare im ND-Kollegium zirkulieren. Ehe „Der Spiegel“ bei mir ankommen konnte, war er alt geworden. Anders Ende April 1965: Axen sorgte dafür, daß ich den „Spiegel“-“Bericht“ über unser Demminer Wochenende sogleich lesen konnte. Da es noch keine Kopiergeräte gab, ließ ich ihn genau abschreiben und hob die Abschrift auf – unbewußt, als hätte ich instinktiv geahnt, daß er uns noch gravierend schaden würde.

Zunächst aber überwog meine Vorliebe für das Hamburger Journal. Sie war im Sommer 1952 entstanden, als ich von Jena nach Berlin kam, um („im Parteiauftrag“) als studierter Biologe im Ministerium für Volksbildung der DDR naturwissenschaftliche Studienprogramme der Lehrerausbildung zu entwickeln. Ich wohnte in der Greifenhagener Straße zur Untermiete und fuhr jeden Morgen vom S-Bahnhof Schönhauser Allee über Gesundbrunnen zum S-Bahnhof Unter den Linden. Montags konnte ich, beim Umsteigen vom „Ring“ zur Nord-Süd-Bahn, in Gesundbrunnen den neuesten „Spiegel“ kaufen – zum Wechselkurs von eins zu zehn, also zehn DDR-Mark für eine Westmark. Da ich (noch ohne Kinder) 900 Mark verdiente, war „Der Spiegel“ erschwinglich. Man mußte ihn nur gut in der Aktenmappe verstauen und nicht „im Amt“ lesen oder herumliegen lassen.

Für jemanden wie mich, der in seinem Leben bis dahin fast nur „obrigkeitstreue“ Blätter kennengelernt hatte, war „Der Spiegel“ ein Faszinosum – vor, allem wegen seiner enthüllenden Faktizität, seiner unkonventionell assoziativen Sprache und seiner demonstrativen Unabhängigkeit. Auch Hermann Kant und Klaus Korn, die ich als Doktorand an der Berliner Humboldt-Universität kennenlernte und mit denen ich die Studentenzeitschrift „tua res“ fabrizierte, waren „Spiegel“-Fans. Fast alle damaligen Studentenjournale in Westberlin und Westdeutschland – einschließlich der aufstrebenden Zeitschrift „konkret“ – waren so oder so auf den „Spiegel“ fixiert.

Den „Spiegel“-Jahrgang 1956 (mit der Serie über Stalins monströse Schauprozesse zur Disziplinierung von „Bruderparteien“ in osteuropäischen „Bruderländern“ und mit dem „Spiegel“-Titel zur Verhaftung Wolfgang Harichs konnte ich noch komplett kaufen und anstandslos in der DDR Hauptstadt einbinden lassen. Dann, bei wachsender Familie, reichte das Geld nicht mehr für „Schwindelkurs“-Einkäufe. Die „Spiegel“-Affäre 1962, bei der Augstein verhaftet und die Redaktion polizeilich besetzt wurde, erhöhte die Reputation des Journals. Doch daß „Der Spiegel“, wie man es seinerzeit ausdrückte, völlig „objektiv“ informieren würde, war schon zu bezweifeln. Mit der Demmin-Story von Ende April 1965 begann meine kritische Sicht auf das Blatt. Erstmalig konnte ich Story und Realität vergleichen. Die Demminer Wochenend-Wirklichkeit war mir geradezu „intim“ vertraut. Und gemessen daran war die „Spiegel“-Story ein politisch verantwortungsloses Geschmiere.

In Demmin war es der Turba-Jugendkommision erstmalig gelungen, „die örtliche Staatsmacht“ (Funktionäre der Polizei, der Justiz und der Armee) mit jungen Leuten in ein spontanes gleichberechtigtes Gespräch zu bringen – mit der sogenannten Intervall-Methode, bei der“ Tanz/Musik und Diskussionsrunden in Intervallen aufeinander folgten. Der Generationskompromiß bestand darin, daß die Funktionäre auch modern zu tanzen versuchten, dieweil die Jugendlichen vernünftig am Gespräch teilzunehmen bestrebt waren. Dieter Wolf im ND: „Man sah u.a., wie ein junger Soldat der NVA dem Chef des VoIkspolizeikreisamtes einen zünftigen Twist beibrachte. Hübsche Mädchen halfen dem Volkspolizeioffizier, den Lehrgang auf vier Stunden auszudehnen. Nach einigen Tänzen ging es schon ganz gut, und niemand im Saal fand, daß sich der Volkspolizeioffizier irgendeine Würde vergab.“ Daraus machte „Der Spiegel“: „Der Chef des Volkspolizei-Kreisamtes in Demmin wand sich in Zuckungen. Vier Stunden mühte er sich, unter der Anleitung eines jungen Volksarmee-Soldaten Twist zu lernen…“

Systemübergreifende Aversion gegen neue Musik und ihre Fans: aus der „Bild-Zeitung“ vom 17. September 1965 nach dem Rolling-Stones-Konzert in der Westberliner Waldbühne

Die psychiatrische Semantik (Zuckungen) war nicht nur ideologisch determinierte Vopo-Schelte, sondern auch verkappte Kritik an den damals neuen Bewegungsformen unter der Jugend im Westen. Es gab seinerzeit eine „systemübergreifende“ Antipathie etablierter Leute in Ost und West gegen neue Musik, neue Tänze und neue Frisuren, gegen das neue Lebensgefühl der nachwachsenden Generation, dessen tiefere Inhalte man im Westen erst ab 1968 begreifen lernen würde. Die „Spiegel“-Story über den Zwangshaarschnitt an der Ostberliner Wildangel-Oberschule und die DDR-Langhaarigen vom Bahnhof Lichtenberg („Der Spiegel“ 44/65 vom 27. Oktober 1965, Seiten 94/95) war jedenfalls noch von spürbarem Widerwillen gegen „Gammler“, Rolling Stones und vermeintlich verdreckte Kleidung getragen.

Die meisten altbundesdeutschen, Medien schürten Widerwillen gegen und mitunter sogar Haß auf die „Gammler“ und das „Gammlerunwesen“. Deshalb sahen diese Medien auch davon ab, den jugendpolitischen Reformbestrebungen in der DDR eine angemessene Publizität zu geben. Dafür aber stieg man voll ein, als die von Moskau inspirierten und gestützten Hardliner 1965 das SED-Jugendkommuniqué von 1963 unterliefen und schließlich aushebelten. Polizeiknüppel gegen Jugendliche – da schien man sich zu verstehen – Gleiche Kurzsicht – trotz gegensätzlicher Weltsicht.

Eine Ausnahme war die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Dort gab es einen jungen, talentierten und erstaunlich“ vorurteilsfreien Redakteur Kai Hermann. Wir kannten uns und trafen uns auf Pressekonferenzen und anderen Veranstaltungen. Immerhin hatte Ulbricht einen deutsch-deutschen Zeitungsaustausch vorgeschlagen. Dabei waren „Forum“, „Neues Deutschland“ und „Die Zeit“ im Gespräch. Die besten zeitgenössischen Berichte über Reformen in der DDR und über Moskaus „Gegenreformation“ 1965/66 standen im Westen in der „Zeit“ und stammten oft aus der Feder von Kai Hermann. Ihn hätten wir nach Demmin einladen müssen. Er wurde im Westen zu einem „Opfer“ des 11. Plenums; denn nach dem Restaurationsplenum verlor er gerade die Themen, mit denen er in der „Zeit“ interessant hervorgetreten war.

Anders „Der Spiegel“. Er trat mit einem „vierstündig“ „zuckenden“ Polizeichef hervor, von dem „die Augsteiner“ hätten vermuten können, daß so einer die Sicherheitsbürokraten in Karlshorst und im MfS und in der SED-Führung zielsicher auf die Palme bringen würde. Honecker mußte auf einen „seriösen“ Anlaß nicht lange warten. Am Rande eines Pressefestes in Magdeburg gab es „Vorkommnisse“ mit Jugendlichen. Daraufhin kritisierte Honecker im Juli 1965 im SED-ZK-Sekretariat pauschal die Volkspolizei-Führung wegen „Iiberalistischer Erscheinungen“. Von da an hütete sich die VP, öffentlich mit Jugendlichen „Iiberalistisch“ „herumzuzucken“. Was aus dem Demminer Polizeichef wurde, weiß ich nicht. Preisfrage von 1996: Bekommt er jetzt eine Strafrente wegen Staatsnähe oder wegen Jugendnähe?

Doch die ersten Sätze der Spiegel-Story („zuckender“ VP-Chef) waren harmlos im Vergleich zu diesen: „Das Bekenntnis zu modischer Jugend-Kurzweil markiert eine neue Phase sowjetzonaler Kulturpolitik, die westliche Unterhaltungs- und Geistesprodukte in einem Maß duldet wie nie zuvor. Erlaubt sind in der DDR neuerdings Synkopen für den Twister, Kafka für den Literaturfreund und ´Kiss me, Kate´ für den Musical-Anhänger. Ulbricht macht das Tor auf, ein Spältchen freilich nur…“

„Macht das Tor auf“ war Axel Springers Parole. Ulbricht knapp vier Jahre nach dem Mauerbau zu unterstellen, seine endlich vernünftiger gewordene Jugendpolitik und seine damals weniger restriktive Kulturpolitik zielten (an Moskau vorbei) auf Maueröffnung (wenn auch nur „ein Spältchen“ breit), war nicht nur politisch schlicht unsinnig, sondern auch infam: De facto schwärzte „Der Spiegel“ Ulbricht im Kreml an, und die Leidtragenden waren junge Leute und Künstler in der DDR. Wie unangemessen ernst man im Kreml gewisse Sprüche bestimmter westdeutscher Medien nahm, hätte ich bis Ende Januar 1966 nicht für möglich gehalten. Bei meiner ersten Reise in die UdSSR im Januar 1966 aber erfuhr ich, wie genau gewisse Sprüche gesammelt und von bestimmten Kremlkräften zum Schüren von Argwohn gegenüber Ulbricht instrumentalisiert wurden.

Ziemlich suspekt wurde mir „Der Spiegel“ am 7. März 1966 (Heft 11/66, Seite 24), als er mit einem einzigen Satz unter der Schlagzeile „Saubere Leinwand“ die Absetzung Kurt Turbas von seiner Funktion als Leiter der Jugendkommission beim SED-Politbüro meldete. Turba war, wovon noch zu berichten sein wird, am 27. Januar 1966 aller seiner Ämter enthoben worden. Honecker war zu feige, das der Öffentlichkeit mitzuteilen. Kein Medium meldete Turbas Absetzung/ Wie kam „Der Spiegel“ mit gut einmonatiger Verspätung zu dem Satz über Turba? Weil Der „Spiegel“ eben Meister im Enthüllen von geheim gehaltenen Sachen war? Oder wie| man ihm die Nachricht zugesteckt hatte? Das Timing auf den 7. März 1966 war nicht ohne Sinn: Am Sonntag, dem 6. März 1966, feierten wir Axens 50. Geburtstag und nahmen zugleich von ihm Abschied; am 7. März 1966 trat Rudi Singer an die Spitze des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“.

Am 21. April 1975, gleichsam zum zehnten Jahrestag des inzwischen legendären Demminer Jugend-Wochenendes, bescherte mir „Der Spiegel“ eine aufschlußreiche Story: „´Rumhorchen, wer rummotzt und randaliert´ / Der Fall des Merseburger Stasi-Spitzels `Donner´“ (Der Spiegel 17/75, Seiten 46, 49, 52). Mittlerweile hatte es Erich Honecker (sozusagen beim zweiten Anlauf) geschafft, an Walter Ulbrichts Stelle zu treten. Rudi Singer hatte dem „Honecker-Mann“ Joachim Herrmann weichen müssen. In der ND-Redaktion waren „Spiegel“-Exemplare Verschlußsache des Chefredakteurs. Dennoch bekam ich diesen „Spiegel“ zu Gesicht und konnte eine Kopie ziehen von der Story über den MfS-IM „Donner“.

Auf dem letzten gesamtdeutschen Arbeiterjugend-Kongreß im Sommer 1965 in Magdeburg: Walter Ulbricht (rechts), sein Wirtschaftsberater Wolfgang Berger (links) und Kurt Turba (Mitte), Leiter der Jugendkommission beim SED-Politbüro Foto: Archiv Wessel

Wie „Donner“ mit Klarnamen hieß, verriet „Der Spiegel“ nicht. Doch aus den abgebildeten Personalpapieren (mit geschwärztem Klarnamen und Geburtsdatum) ging hervor, daß „Donner“ in Merseburg geboren worden war und bis Februar 1975 in Wallendorf, Bezirk Halle, Mühlstraße 12, gewohnt hatte und am 3. Februar 1975 von DDR-Innenminister Dickel offiziell ausgebürgert wurde. Zuvor hatte „Donner“ fast ein ganzes Jahrzehnt lang in der mitteldeutschen Jugendszene gespitzelt und „gelockspitzelt“. Der „Spiegel“ über die „Arbeit“, die den „Donner“ offenbar dazu qualifizierte, in die große Schar kleiner MfS-Spione des Markus Wolf aufgenommen zu werden: „Vor Februar 1975 war ´Donner´ regelmäßig für den Staatssicherheitsdienst unterwegs. Hauptaufgabe: bei Tanzveranstaltungen, zum Beispiel in der Merseburger Jugendgaststätte ´Saalestrand´ die Stimmung der Jungbürger zu erkunden – ob und wie über den Staat geredet wird, wer rummotzt und randaliert, möglichst mit Namen, mindestens aber mit Personenbeschreibung´. Honorar: 20 bis 30 Mark.“

Auf solche „Donnerlinge“ stützten sich also Honecker und Mielke, um im Moskauer Auftrag Ulbricht zu disziplinieren und das jugendpolitische Prinzip „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ außer Kraft zu setzen. Der „Spiegel“-Story zufolge hat IM „Donner“ sich vor 1975 in der DDR so aufgeführt und solche Sprüche von sich gegeben, daß ihm eine „glaubhafte Legende“ als „Ausreisewilliger“ zuwuchs. „Republikfeindliche Tätigkeit“ gehörte offenbar zum „Qualifizierungsprogramm“ für Spione, die von der HVA des MfS oder vom KGB in den Westen geschleust wurden. „Donner“ offenbarte sich bald nach der Übersiedlung in Hessen dem Verfassungsschutz, der ihn an den „Spiegel“ „zur Auswertung“ „weitergegeben“ haben muß… „Entzückend“, wie Kojak sagen würde.

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