Brillanten für 15 Dollar

Geschichten rund um den Reichstag (Folge 3): Als die „Ami-Zigaretten“ zur Behelfswährung wurden. Am Reichstag blühten nach 1945 die Schwarzmarktgeschäfte


Von Holger Becker

Schwarzhandel mit Zigaretten. Aus einem Dollar konnten dabei mehr als 1000 Reichsmark werden
Foto: Illus-ADN, Bundesarchiv, Bild 183-19000-3293 / CC-BY-SA 3.0

„Chio, chio, chio, cho, Schieber stehn am Bahnhof Zoo“, sang man im Berlin der Nachkriegszeit. Die Abwandlung eines amerikanischen Schlagers spielte auf einen der wichtigsten Treffpunkte für Schwarzmarktgeschäfte an. Es gab zahlreiche solcher Orte in der zerstörten Stadt. Zu den größten schwarzen Märkten zählte neben dem Bahnhof Zoo und dem Alexanderplatz das Areal zwischen Reichstag und Brandenburger Tor.

„Hier wird von amerikanischen und russischen Soldaten alles gekauft und verkauft, was es an Uhren, Kleidungsstücken, Ringen, Juwelen, Stiefeln, Ferngläsern, Photoapparaten, Rasiermessern, Pelzmänteln, Strümpfen und seidener Damenwäsche noch gibt. Die Amerikaner und Engländer kaufen nur Uhren und Schmuck. Die Russen kaufen aber auch Kleidung für ihre Frauen und geben außer dem Kaufpreis noch Lebensmittel wie Butter, Wurst, Speck, Zucker und Brot“, schrieb am 5. August 1945 Karl Deutmann aus Berlin-Adlershof in sein Tagebuch. Deutmann hatte sich an diesem Tag ins Stadtzentrum aufgemacht, um „auf dem Tauschwege“ ein paar Lebensmittel zu ergattern. Wie er notierte, hatte die Familie zuvor tagelang „von Brotscheiben in Öl gebacken“ gelebt. Und so wie den Deutmanns ging es noch über Jahre den meisten Berlinern, die zeitweise tägliche Lebensmittelrationen mit einem Energiewert von nur 1.000 Kalorien erhielten.

So wurde auf den schwarzen Märkten alles mögliche, das angesichts des Hungers erst einmal entbehrlich schien, gegen Eßbares eingetauscht. Wer sich nicht als sogenannter Hamsterer zur Reise aufs platte Land aufmachte, um bei den Bauern für Teppiche oder Kronleuchter Kartoffeln oder Speck zu erhalten, stiefelte zum Beispiel zum Reichstag.

An und für sich waren die dort vollzogenen Tauschgeschäfte legal. Denn der sowjetische Militärkommandant hatte schon am 18. Mai 1945 den privaten Handel mit Waren aller Art erlaubt. Allerdings sollte nur ein gewisser Prozentsatz der laufenden Produktion an Lebensmitteln und Industriewaren zu freien Preisen auf den Markt kommen. Die Bauern unterlagen damals deutschlandweit in allen Besatzungszonen einem Ablieferungssoll und durften nur das darüber hinaus Produzierte frei verkaufen.

Diese Bestimmungen wurden aber gern unterlaufen. Zeitzeugen berichten beispielsweise von Spreewälderinnen, die in ihren Trachten zwischen Vetschau und Lübben den Zug von Görlitz nach Berlin bestiegen, aber keinerlei Interesse an einem Sitzplatz zeigten. Unter ihren weiten Röcken versteckten diese findigen Damen Beutel mit Eiern, die sie in einem Bett von Strohhäcksel gegen das Zerbrechen sicherten, sowie Fleisch und Wurst. Doch die stehend nach Berlin reisenden Spreewälderinnen gehörten zu den kleinen Fischen unter den Lebensmittelschiebern.

Ganz andere Beschwerden über das „Geschäftsgebaren des Berliner Vieh- und Pferdehandels“ kamen 1946 aus Mecklenburg. Der damalige 1. Stellvertreter des Oberbürgermeisters von Groß-Berlin, Karl Maron (SED), informierte darüber am 4. Mai jenes Jahres die Berliner Bezirksbürgermeister: „Angeblich sollen Berliner Händler mit Bescheinigungen einzelner Bezirksbürgermeistereien in Mecklenburg erschienen sein und dort versucht haben, Vieh und Pferde einzukaufen und unter Umgehung der in Mecklenburg bestehenden Bestimmungen sowie zu wilden Preisen zu handeln. Es ist zu vermuten, daß die Händler dieses Vieh nur zum Schlachten und zwar vermutlich zum Schwarzschlachten erwerben.“

Das Schwarzgeschlachtete landete dann oftmals auf den schwarzen Märkten Berlins – so wie die Ergebnisse anderer krimineller Aktionen: Vor dem Reichstag waren gestohlene oder gefälschte Lebensmittelmarken zu haben, geraubte, geschmuggelte oder gar mit lebensgefährlichen Zusätzen versehene Arzneimittel, Beutestücke aus Plünderungen von Wohnungen, schwarz gebrannte Schnäpse, Lebensmittel, die Händler gegenüber den Behörden als „Schwund“ deklariert hatten. Auch die sexuelle Prostitution – vor allem für Soldaten der Besatzungsmächte – gehörte zum Geschäft auf dem Schwarzmarkt, was gerade in Berlin zu einem drastischen Anstieg der Geschlechtskrankheiten führte.

Während viele für ein bißchen Butter oder Wurst ihr letztes Hab und Gut hergaben, fuhren die professionellen Schieber horrende Gewinne ein. Bekannt waren ihre abendlichen Treffpunkte wie die Queen-Bar, in denen vom Freßgelage ohne Lebensmittelmarken bis zum teuersten Cognac alles zu haben war. Den häufigen Razzien auf den schwarzen Märkten sahen die berufsmäßigen Organisatoren illegaler Geschäfte gelassen entgegen. Dort wurden meist die „Kleinen“ erwischt und dann „Schnellgerichten für Tauschmarktsünder“, so der offizielle Titel, zugeführt.

Außerdem entbehrten diese Polizeiaktionen nicht einer gewissen Komik. Denn Soldaten der Besatzungsmächte, die den Einsatz der deutschen Polizisten beaufsichtigten, gehörten zu den Haupnutznießern des Tauschhandels. In seinem Tagebuch beschrieb Karl Deutmann eine solche Razzia am 7. August 1945 zwischen Brandenburger Tor und Reichstag: „Eben angekommen und dem wilden Haufen zugesehen, ertönten die schrillen Pfeifen der deutschen Polizeibeamten. Hunderte von Menschen wandten sich zur Flucht, von allen Seiten umstellt. Amerikaner und Russen ließen sich nicht stören.“

Warum auch? Die Angehörigen der Besatzungsmächte unterlagen nicht der deutschen Polizeigewalt. Und ihre Geschäfte liefen hervorragend. So versorgten vor allem US-Soldaten die schwarzen Märkte mit Zigaretten. Ihre „Lucky Strike“, „Chesterfield“ oder „Camel“ waren in der Zeit äußerster Knappheit des Tabaks rasch zu einer Behelfswährung geworden, mit der von Eiern bis hin zu Autos alles bezahlt werden konnte. Dem versuchten die Russen zwar bald ihre in Dresden produzierten Marke „Drug“ (Freund) entgegenzusetzen – doch ohne durchschlagenden Erfolg. Trotz eines offiziellen Verbots der amerikanischen Militärbehörden, Zigaretten zu verkaufen, ließen sich US-Soldaten und -Offiziere das begehrte Gut mit der Feldpost schicken, zweigten Zigaretten von den Armeereserven ab oder schmuggelten sie in ganzen Wagenladungen aus dem Ausland ein.

Eine Stange mit 200 Zigaretten kostete den GI weniger als einen Dollar. Doch auf dem schwarzen Markt ging die einzelne Zigarette nicht unter einem Preis von fünf Reichsmark weg. So konnten die amerikanischen Soldaten aus einem Dollar mindestens 1.000 Reichsmark machen. Und für 15.000 bis 20.000 Reichsmark war vor dem Reichstag ein Brillant von einem Karat zu haben. Eine Leica-Kamera wechselte für 40.000 Reichsmark den Besitzer. Nach amerikanischen Angaben kamen damals täglich allein 600.000 Zigaretten über die Militärpost in Berlin und der US-Besatzungszone an, die dann mit einem Schwarzmarktgewinn von 12.000 Prozent verkauft worden seien. Der Jahresumsatz allein bei dieser Art des Zigarettenimports wurde auf 100 Millionen Dollar geschätzt.

So dürften die US-Soldaten nicht zu den Glücklichen gehört haben, als die separate Währungsreform im Westen Deutschlands sowie Berlins den schwarzen Märkten und den gleichsam wilden Reparationszahlungen der Deutschen ein Ende machten.