Spezialauftrag Siegesbanner

Geschichten rund um den Reichstag (Extra-Folge): Wer hißte im Mai 1945 tatsächlich die Fahne?

DDR-Briefmarke von 1975, die das Chaldej-Motiv zeigt

Von Holger Becker Am 30. April 1945 um 13 Uhr beginnt der Sturm. Drei Bataillone der Roten Armee arbeiten sich über den Berliner Königsplatz vor, hin zu den vermauerten Eingängen des Reichstagsgebäudes. Granatwerfer schießen Breschen in die Befestigung, bevor die ersten angreifenden Soldaten in das düstere Haus eindringen – unter ihnen zwei Männer mit Spezialauftrag: Die Sergeanten Meliton Kantarija und Michail Jegorow, beide Aufklärer des 756. Schützenregimentes der 150. Idrizaer Division, sollen auf dem Reichstag das „Siegesbanner“ hissen. Doch die Rotarmisten stoßen in den Gängen und Sälen auf verbissene Verteidiger. Es entbrennt der Kampf Mann gegen Mann mit Bajonetten, Messern, Gewehrkolben, Handgranaten. Gegen 14.25 Uhr haben Kantarija und Jegorow das zweite Stockwerk erreicht. Sie lassen die Fahne aus einem Fenster über dem Portal flattern. Doch bis zum Dach des hohen Hauses wird es für die beiden noch fast achteinhalb Stunden dauern. Da ist es längst dunkel in Berlin. Um 22.50 Uhr melden Kantarija und Jegorow, die Fahne sei über dem Reichstag gehißt. Die Fahnenstange hätten sie neben dem linken Vorderfuß des Pferdes der bronzenen Germaniastatue in ein Loch gesteckt, das von einem Granatentreffer stammte.

An dieser Stelle wollen wir die Erzählung stoppen. Wir sind mit ihr dem Bericht gefolgt, den Wassili Subbotin, der Frontkorrespondent der zuständigen Divisionszeitung, in seinem Buch „Wir stürmten den Reichstag“ gegeben hat. Dieser 1969 im DDR-Militärverlag erstmals auf Deutsch erschienene Report, da können wir sicher sein, stellte die zu seiner Erscheinungszeit genehmigte offizielle Version der Beschreibung jenes Moments dar, in dem die Sowjetunion die Fahne ihres Sieges über das faschistische Deutschland aufpflanzte. Wie bei allen offiziellen Darstellungen sind Zweifel angebracht, zumindest im Detail.

Der dritte Mann

Sie beginnen mit dem verschwundenen dritten Mann. Denn in der ursprünglichen, angeblich von Stalin selbst geprägten Erzählung über diesen bedeutenden und glücklichen historischen Moment gehörte zu den Segeanten Kantarija und Jegorow noch der Leutnant Alexej Berest. Ein Trio mit Symbolgehalt, wie ihn der Zufall kaum hervorzubringen in der Lage sein dürfte. Denn bei den dreien handelte es sich erstens um ein KPdSU-Mitglied aus der Ukraine als zweitgrößter Sowjetrepublik (Berest), einen Komsomolzen aus dem großen Rußland (Jegorow) und einen Parteilosen aus Stalins Heimat Georgien (Kantarija). Wenn es stimmt, daß Berest nach Kriegsende drei Jahre im Gulag zubringen mußte, läßt sich verstehen, warum später bei Moskauer Feierlichkeiten Konstantin Samsonow, 1945 Oberleutnant und Bataillonskommandeur, den Platz von Berest einnahm.

Als sicher gilt immerhin, daß eine rote Fahne am späten Abend des 30. April 1945 über dem Reichstag wehte. In Moskau war da schon der 1. Mai angebrochen. Denn noch bestand eine Zeitdifferenz. Erst am 20. Mai 1945 ließ Stadtkommandant Nikolai Bersarin die Berliner Uhren um zwei Stunden auf Moskauer Zeit vorstellen. Aber gibt es nicht die Fotos des legendären Jewgenij Chaldej? Ja, diese Fotos gehören zu den Bildikonen des 20. Jahrhunderts. Doch Dokumente im strengen Sinne sind sie nicht. Der Soldat, der auf Chaldejs zuerst in der Zeitschrift „Ogonjok“ veröffentlichten Fotos die Fahne schwenkt, ist nach neuen Erkenntnissen der Ukrainer Alexej Kowalew. Bei den zwei weiteren Sowjetsoldaten, die auf einigen Bildern der Serie zu sehen sind, handelt es sich  um den Kumyken Abdullah Ismailow aus dem damals formell autonomen dagestanischen Teil der Russischen Föderativen Sowjetrepublik und um den Weißrussen Leonid Goritschew. Ein ethnischer oder Bio-Russe, wie man in neuestem deutschem Dummsprech sagen könnte, befindet sich nicht unter den vom Fotografen zufällig ausgewählten Männern.

Flaggen aus Tischtüchern Chaldej kletterte mit seiner Leica-Kamera erst am Morgen des 2. Mai auf das Dach des Reichstages. In den Kellern saßen da immer noch belgische SS-Leute und schossen aus allen ihnen zur Verfügung stehenden Rohren. Der Fotograf arbeitete für die sowjetische Nachrichtenagentur TASS und war erst am 1. Mai in Berlin eingetroffen. Die Siegesfahne, die seine Fotos zeigen, stammte aus seinem Gepäck. Nach eigener Aussage hatte er sie als eine von mehreren Flaggen in Moskau aus einem Tischtuch anfertigen lassen. Chaldej kannte sich aus mit dem Handwerk des Kriegsberichterstatters. Schon nach der Befreiung von Sewastopol 1944 zum Beispiel hatte er das Hissen des Siegesbanners abgelichtet. Und in Berlin fand die Foto-Session auf dem Reichstag ihre Vorläufer auf dem Flughafen Tempelhof und auf dem Brandenburger Tor. Jahrzehntelang ließ die sowjetische Führung die Welt glauben, auf den Chaldej-Fotos seien Kantarija, Jegorow und Samsonow zu sehen. Und als der Fotograf 1997 kurz vor seinem Tode Journalisten erzählte, mit den dreien sei er gar nicht auf dem Dach gewesen, bekam das nicht gleich jeder mit. So behauptete der damalige „ZDF-Geschichtsprofessor“ Guido Knopp noch 1999 in seinem Buch „100 Jahre. Die Bilder des Jahrhunderts“, Kantarija und Jegorow seien jene beiden Männer gewesen, „die Chaldej auf dem Reichstag halfen, die perfekten Bilder zu schießen“.

Aufnahme aus einer Serie, die eventuell Mark Redkin fotografierte. Die Zeitung „Neues Deutschland“ verwendete es 1985 zum 40. Jahrestag der Befreiung
Foto: Archiv DSF

In der DDR war mancher vorsichtiger gewesen als der Professor Knopp, und das obwohl Meliton Kantarija und Michail Jegorow 1965 die Ehrenbürgerschaft der DDR-Hauptstadt erhielten und Chaldejs Aufnahmen durchaus Ikonen-Status besaßen. So verwandte das in Fragen der Zeitgeschichte für die DDR federführende SED-Institut für Marxismus-Leninismus statt der Chaldej-Aufnahmen 1976 lieber ein ganz anderes Foto, um in dem parteioffiziellen Band „Die Vereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in Bildern und Dokumenten“ den Sieg der Roten Armee zu illustrieren. „Die Fahne des Sieges auf dem Gebäude des deutschen Reichstages“, hieß dort die vorsichtig-neutrale Bildunterschrift unter einer Aufnahme, die drei von hinten abgelichtete Soldaten in Mänteln und mit Stahlhelmen mit einer Fahne neben der Reichstagskuppel zeigt. Auch das Zentralorgan „Neues Deutschland“ druckte 1985 zum 40. Jahrestag der Befreiung dieses Foto statt des Chaldej-Motivs, das ja auch noch einen Schönheitsfehler hatte. Einer der abgelichteten Soldaten trug im unretuschierten Original an beiden Handgelenken Armbanduhren.

Das aus dem untergegangenen Archiv der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) stammende Foto zeigt vermutlich Kantarija und Jegorow. Vermutlich stammt es von Anatoli Morosow, der behauptete, die beiden fotografiert zu haben Foto: Archiv DSF

Auch das Foto von den Soldaten mit den Stahlhelmen scheint zu einer Serie von Aufnahmen zu gehören. Es dürfte ebenfalls am 2. Mai 1945 entstanden sein und könnte von dem Fotografen der Militärzeitung „Krasnaja Swesda“ Mark Redkin stammen. Außer Chaldej versuchten an jenem Tag weitere Fotografen und auch ein Filmteam ihre Bilder auf dem Dach des Reichstages in den Kasten zu bekommen, darunter Chaldejs Kollege Wladimir Grebnew, der dasselbe Motiv wie bei Chaldej auf der Ostseite des Reichstags und wahrscheinlich dieselben Personen fotografierte. Außerdem inszenierten die Fotografen Alexander Kapustjanski und Anatoli Morosow Flaggenhissungen. Morosow behauptete später, er hätte dort Kantarija und Jegorow abgelichtet. Was durchaus stimmen kann. Eine aus DDR-Beständen überlieferte Serie von Fotos zeigt nämlich zwei Soldaten, bei denen der Vergleich mit später entstandenen Aufnahmen ergibt: Das können die beiden in jungen Jahren sein.

Wir wissen bis heute nicht sicher, wer die Soldaten waren, die 1945 das sowjetische Siegesbanner hißten. Solange Rußland nicht wirklich seine Archive öffnet, ist auch die jüngste Variante mit Vorsicht zu genießen, nach der es der russische Feldwebel Michail Minin gewesen gewesen sein soll, der mit einigen Kameraden den symbolischen Sieges-akt vollzog. So wurde es von der „Komsomolskaja Prawda“ kolportiert, dem russischen Pendant zur deutschen „BILD“. In Deutschland  war es wieder Knopps ZDF-Geschichtsredaktion, die sich der Sache annahm. Die Minin-Geschichte „sei offiziell verbürgt“, hieß es. Bei Lichte besehen sind die Bürgen dafür russische Militärhistoriker und Minin selbst. Was keine grundlegende Veränderung zur Kantarija/Jegorow-Variante darstellt.

Man kann die Geschichte glauben oder nicht. Sieht man sie unter dem Gesichtspunkt ihre Symbolgehalts, der zumindest für das sowjetische Geschichtsdenken sehr wichtig war, dann fällt auf: Mit Minin wird das Aufpflanzen des Siegesbanners zur rein russischen Angelegenheit ohne störende georgische Beimischung. Außerdem schwingt ein Anklang an den Volkshelden Kusma Minin mit, der als einer der Befreier Moskaus von polnisch-litauischer Besetzung im Jahre 1612 gilt. Der andere hieß Dimitri Pocharski. An beide erinnert ein Denkmal auf dem Roten Platz.

Verschwundene Ehrenbürger

Aber ganz gleich, was sich noch erweisen wird: Tatsache bleibt, es war die Rote Armee, die den Hauptteil leistete, um Deutschland von der Naziherrschaft zu befreien. Als Berlin 1992 Meliton Kantarija und Michail Jegorow (zusammen mit einer Reihe sowjetischer Militärs) aus seiner Ehrenbürgerliste strich, geschah das nicht, weil bei den Parlamentariern Zweifel an der Rolle der beiden am 30. April 1945 bestanden. Am 8. Mai 1985 sprach der Präsident des westlichen deutschen Staates mit dem Wort von der „Befreiung“ aus, was im politischen Sprachgebrauch des östlichen deutschen Staates längst Pflicht und Selbstverständlichkeit war. Weizsäcker habe damit das Vertrauen der Welt in ein wahrhaft gewandeltes Deutschland befestigt, sagte zum Tode des ehemaligen Bundespräsidenten dessen aktueller Nachfolger im Amt.

Wahrhafte Wandlung? Der Umgang Berlins mit seinen Befreiern – wie auch die aktuelle Wiederbelebung antirussischer Affekte – läßt selbst 70 Jahre nach Kriegsende noch Zweifel aufkommen, auch wenn Deutschlands Hauptstadt Nikolai Bersarin 2003 nach heftigen Diskussionen wieder eingebürgert hat. Und warum übrigens steht Paul von Hindenburg, der 1933 als Reichspräsident Hitler zum Reichskanzler ernannte, noch immer auf der Berliner Ehrenbürgerliste?

März 2015

PS: Hindenburg ist seit Januar 2020 kein Ehrenbürger Berlins mehr.