Tunnel zwischen Welten

Geschichten rund um den Reichstag (Folge 2): Der unterirdische Gang zwischen Reichstag und dem Palais des Reichstagspräsidenten hatte bis 1989 seine eigene Mauer

Von Holger Becker

Lokaltermin im Tunnel nach dem Brand: Inspektion des unterirdischen Ganges zwischen Reichstag und dem Palais des Reichstagspräsidenten am 10. Oktober 1933. Vorn der wegen seiner Aussagen zum Reichstagsbrand suspendierte Branddirektor Walter Gempp, als zweiter hinter ihm (mit Brille) der Mitarbeiter des Reichsjustizministeriums Hans von Dohnanyi
Foto: Archiv DSF

Er war der berühmteste Heizungstunnel der Welt. In die Geschichte ging er wegen der begründeten Vermutung ein, daß durch diesen unterirdischen Gang im Februar 1933 Brandstifter in den Reichstag gelangt sein könnten. Denn der Tunnel verbindet den Reichstag mit dem historischen Palais des Reichstagspräsidenten, in dem 1933 Hermann Göring residierte. Genau der Mittelachse des Reichstagsgebäudes folgend, unterquert er die Friedrich-Ebert-Straße. Die Rohre, die er barg, begannen im Kesselhaus hinter dem Palais und endeten in der Nähe des Stenographenraums im Reichstagsgebäude. Wer dem Verlauf des Tunnels oberirdisch folgt, befindet sich auf dem kürzestmöglichen Weg zwischen dem Reichstagsportal, das heute die Abgeordneten des Bundestages benutzen, und dem ehemaligen Reichspräsidentenpalais.

Bis 1989 war das eine äußerst heiße Zone. Immerhin stand der Reichstag zu einem kleinen Teil auf DDR-Gebiet. Die Demarkationslinie verlief genau genommen quer durch die Säulen des Vorbaus an der Ostseite des Wallotschen Baus. Der Standort der Mauer täuschte – wie überall in Berlin – über diesen Sachverhalt hinweg. Zwischen der kartographisch festgelegten Grenze und der Betonwand gab es mehrere Meter Zwischenraum. Das folgte einem auf der Ostseite obwaltenden Prinzip: Wer von Westen her einen Anschlag auf die Mauer unternehmen wollte, egal ob mit Sprengstoff oder nur mit einer Spraydose, mußte erst einmal das DDR-Gebiet betreten.

Und selbstverständlich kümmerte man sich auch um das unterirdische Berlin mit seinen verzweigten Systemen von Verkehrstunneln, Kanalisationsröhren und anderen Schächten. Der Heizungstunnel zwischen Reichstag und Ex-Reichspräsidentenpalais geriet dabei früh ins Visier. So erinnerte sich der ehemalige Chef der DDR-Grenztruppen Klaus-Dieter Baumgarten (1931 bis 2008) im Gespräch mit dem Autor im Jahre 2001 an seine Zeit bei einer Spezialkompanie Anfang der 1950er Jahre. Diese Einheit, die dem Innenministerium unterstand, hatte Einrichtungen der SED zu bewachen. Neben dem SED-Zentralkomitee in der Torstraße und dem Karl-Liebknecht-Haus gehörte dazu auch das Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut, das zeitweilig Quartier im früheren Palais des Reichstagspräsidenten bezogen hatte.

Der alte Heizungstunnel zum Reichstag sei schon zu jener Zeit speziell gesichert worden, berichtete Baumgarten. Er erinnere sich an eine Mauer, die den Gang nach etwa drei Metern in Richtung Westen verschloß. Außerdem seien Drähte gespannt gewesen, die bei einem Durchbrechen der Mauer Alarm auslösen sollten. „Es ging darum, eventuelle Einbrüche in das Institut zu verhindern. Denn um über die Sektorengrenzen von Ost nach West zu gelangen, brauchte damals niemand einen Tunnel“, sagte Baumgarten. Das Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut, das die Werke seiner damaligen Namens-patrone herausgab und später in Institut für Marxismus-Leninismus umbenannt wurde, galt natürlich in dieser Hochzeit des Kalten Krieges als besonders sensibles Objekt.

Mit dem 13. August 1961 änderte sich auch die Funktion der Mauer unter der Friedrich-Ebert-Straße. Nun hatte sie vor allem die Aufgabe, Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern. Das blieb so bis 1989: Der Zugang zum Tunnel und die „Signalanlagen“ in seinem Inneren wurden regelmäßig von Offizieren der DDR-Grenztruppen kontrolliert, die dabei Aufsehen vermieden.

Herausgesägtes Tunnelstück. Es steht in der unterirdiscgen Passage zwischen dem Berlin Reichstagsgebäude und dem Jakob-Kaiser-Haus
Foto: Archiv Becker

Im alten Reichstagspräsidentenpalais logierte inzwischen längst der VEB Deutsche Schallplatten, der als einziger Betrieb in der DDR die schwarzen Scheiben und später auch Musikkassetten produzierte. Jeder DDR-Bürger kannte die Labels, unter denen die Platten in die Geschäfte kamen – so „Amiga“ für Schlager, Pop, Rock, Liedermacher und auch Operette, „Eterna“ für Klassik und auch moderne E-Musik sowie „Litera“ für die Sprechfassungen literarischer Werke, Märchenhörspiele oder politische Dokumentationen. Im Schallplatten-VEB direkt gegenüber dem Reichstag herrschte immer reger Betrieb. Auch Künstler und Manager aus dem Westen kamen zu Vertragsverhandlungen in die Zentrale der DDR-Musikproduktion.

Der unterirdische Gang in Richtung Westen sei kein Thema gewesen, erinnerte sich bei einem Telefonat 2001 Harri Költzsch, der den VEB Deutsche Schallplatten von 1954 bis 1988 geleitet hat. Irgendwann in den 1960er Jahren sei einmal der Ostberliner NVA-Stadtkommandant bei ihm gewesen, um klarzumachen: „Kümmert Euch einfach nicht drum.“ Das sei beherzigt worden. „Ich war froh, wenn in unserer Umgebung nichts passierte. Immerhin hatten wir uns sehr bemüht, dieses schöne Haus unmittelbar an der Grenze für unseren Betrieb zu bekommen. Da wollten wir doch nicht raus“, erinnerte sich Költzsch.

Den VEB Deutsche Schallplatten, nach 1989 umgewandelt in die Deutsche Schallplatten GmbH, gibt es nicht mehr. Ende 1993 meldete der Betrieb Konkurs an. Zuvor war noch das gesamte Klassik-Erbe der DDR zum Spottpreis von acht Millionen D-Mark verkauft worden.

In das einstige Palais des Reichstagspräsidenten ist die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft eingezogen, die der Deutsche Bundestag aus Bonn nach Berlin mitgebracht hat. Als in den 1990er Jahren zwischen dem Reichstagsgebäude und den Neubauten mit Büros für die Abgeordneten ein unterirdisches Wegesystem angelegt wurde, fiel der historische Tunnel diesen Arbeiten zum Opfer. Nur einen zweieinhalb Meter langen Abschnitt sägte man heraus. Bei öffentlichen Führungen durch den Reichstag kann er heute in der unterirdischen Passage zwischen dem Reichstag und dem Jakob-Kaiser-Haus besichtigt werden, zu dessen Komplex auch das ehemalige Palais des Reichstagspräsidenten gehört.