Sie sahen früh, was auf sie zukommt

Indigener Kontinent? Pekka Hämäläinen hat „eine andere Geschichte Amerikas“ geschrieben

Von Holger Becker

Mit diesem Buch geht es mir als DDR-sozialisiertem Menschheitsangehörigen ein bißchen wie mit Reemtsmas Wehrmachtsausstellung von 1995. Wie die meisten meiner Herkunftsgenossinnen und -genossen auch bedurfte ich der Anstrengung nicht, in meinem Kopf mit der „Legende von der sauberen Wehrmacht“ aufzuräumen, wie es damals als quasi pädagogisches Ziel im Katalog zur Exposition benannt worden ist. Dieses Bild war bei uns nicht vorhanden. Wir hatten Dieter Nolls „Die Abenteuer des Werner Holt“ gelesen (zumindest den ersten Band) oder auch Hermann Kants „Der Aufenthalt“, waren zum Beispiel mit polnischen Fernsehserien wie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“ oder „Sekunden entscheiden“ aufgewachsen, in denen die Wehrmacht gar nicht gut wegkam – nicht aber mit „Bestsellern“ wie „Unternehmen Barbarossa. Der Marsch nach Rußland“, wie sie Paul K. Schmidt, erst Pressechef von Nazi-Außenminister Ribbentrop, dann Sicherheitschef bei Axel Cäsar Springer unter dem Pseudonym Paul Carell unters deutsche Westvolk brachte. Wie stark das im Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion Erlebte auf den Seelen lastete, hatte ich in Gesprächen mit meinem Vater erfahren, der als 19jähriger Soldat 1944 in die sowjetische Ukraine mußte und mit einem verkrüppelten rechten Arm wiederkehrte.

Tecumseh, Häuptling der Shawnee, wollte die weißen Siedler zum Frieden zwingen
Quelle: wikimedia commons/ Toronto Public Library

Ein Privileg des Vorsprungs in der politisch-kulturellen Bildung und im Geschichtsverständnis bestand auch, wenn es um die Indianer Nordamerikas ging, deren Angehörige und Organisationen sich bis heute zum Großteil „indianisch“ nennen. Karl Mays Schinken mit ihren edlen Wilden à la Winnetou, zu deren Druck sich das SED-Politbüro 1981 doch noch entschloß, blieben eine Nebensache und wurden als reine Unterhaltungsware konsumiert. Schlimmes war an ihnen ja nicht (Wie hatte Hermann Kant in seinem Jahrhundertroman „Die Aula“ 1965 schon geschrieben: „O herrlicher sächsischer Lügenbold, gepriesen sei dein vielgeschmähter Name! Dank dir, du genialer Spinner aus Hohenstein-Ernstthal, dank dir für tausendundeine Nacht voller Pulverdampf und Hufedonnern.“). Gar keine Chance indes hatten Western, die Indianer als blutrünstige Barbaren darstellten. Deren Bild prägten vielmehr, und das schon seit 1951, die so realistischen wie unterhaltsamen Bücher der Liselotte Welskopf-Henrich, die sich als Historikerin und Autorin im klassische Griechenland so gut auskannte wie in der Kultur der Indianer Nordamerikas. Ihren Roman „Die Söhne der Großen Bärin“ verarbeitete die DEFA als Start zu der erfolgreichen Reihe ihrer Indianerfilme mit Gojko Mitić. Diese Streifen suchten sich ihre Stoffe überwiegend in Ereignissen des indigenen Widerstands gegen das völkermörderische Treiben, das der Konstituierung der Vereinigten Staaten von Amerika zugrunde liegt. So schafften es große indianische Politiker und Militärführer wie der Shawnee Tecumseh (1768 bis 1813) erstmals oder der Seminole Osceola (1804 bis 1838) wieder (es gab schon seit 1953 den Western „Seminole“ mit Anthony Quinn als Osceola) auf die Filmleinwand.

Ihnen, denen Gojko Mitić Gesicht und muskulöse Statur gab, begegnen wir also ohne Überraschtheit in Pekka Hämäläinens voluminöser Geschichte der Ureinwohner Nordamerikas. Aber was heißt Ureinwohner? Nennen wir sie Erstbesiedler. Die Vorfahren der Sioux, Cheyenne, Lakota, Dakota usw. stammen wie ihre späteren weißen Feinde von der eurasischen Landplatte. Nur daß sie von Westen kamen, genauer: von dort, wo auf dem Globus nach geltender Vereinbarung der Osten endet. Ihre Einwanderung über die später nach einem Dänen benannte Beringstraße wurde möglich als Folge eines Klimawandels, den wir als Eiszeit bezeichnen. Das letzte Großereignis dieser Art vor 2,5 Millionen Jahren entzog der Beringstraße das Wasser, und die ersten Migranten wanderten trockenen Fußes nach Amerika. Andere schipperten die Pazifikküste hinab und besiedelten auch den südlichen Halbkontinent bis hinunter nach Feuerland. Hämäläinen schildert uns ihre Verhältnisse und kommt dabei immer wieder darauf zu sprechen, wie klimatische Veränderungen die Lebensweise beeinflußten- so mit der „Kleinen Eiszeit“ um 1130 unserer Zeitrechnung, die erste Gesellschaften indianischer Ackerbauern in die Knie zwang.

Osceola, führte den Stamm der Seminolen in einen der größten „Indianerkriege“ gegen die US-Armee. Porträt von George Catlin
Quelle: wikimedia commons/ Smithsonian American Art Museum

Aber das ist nur das 70.000 Jahre währende Vorspiel zur eigentlichen Handlung, dem erzwungenen Interagieren der Indianer mit den weißen Invasoren. Die Ausflüge der Wikinger vor gut 1000 Jahren über den Atlantik ignorierend, läßt Hämäläinen es mit dem irrtümlichen Auftauchen des Herrn Christoph Columbus 1492 beginnen. Dem Italiener folgen insbesondere Spanier, Briten, Niederländer, Franzosen und schließlich jene Fremdlinge, die sich anmaßend „Amerikaner“ nennen. Die indianischen Stämme sahen früh, was auf sie zukommt, erkannten die „genozidale Tendenz“ (Hämäläinen) der weißen Landnahme. Sie begegneten dem mit einem vielfältigen Instrumentarium eigener Intervention: kluger Diplomatie, in der oft Frauen eine herausragende Rolle spielten, Versuchen friedlicher Koexistenz mit Wandel und Handel, bei dem sie meistens Biberpelze gegen Schußwaffen und Eisenwaren eintauschten, mit Bündnissen, in denen im Siebenjährigen Krieg indianische Stämme gemeinsam mit französischen Kolonialtruppen gegen deren britische Feinde kämpften, während Indianer anderer Provenienz mit den Briten auf Franzosenjagd gingen. Über Jahrhunderte beherrschten die Indianer auch nach Kolumbus´ Landung die Landmasse des Halbkontinents zu größten Teilen, schlossen sich zu mächtigen Verbünden zusammen wie den Six Nations der Irokesen, die im Gebiet der Großen Seen das Sagen hatten. Fast brachten sie die kolonialen Bestrebungen der Briten, Spanier und Franzosen vollständig zum Scheitern. Das Mittelgebirge der Appalachen bildete lange Zeit die westliche Verbreitungsgrenze der Weißen.

Das Blatt wendete sich, nachdem 13 Kolonien an der Atlantikküste 1776 die Vereinigten Staaten gegründet hatten. Die militärisch abgesicherte Landnahme europäischer Siedler nahm gigantische Ausmaße an. Gewalt, auch in Form grauenhafter Massaker, Alkohol und insbesondere Seuchen beendeten die indianische Dominanz. Die Deportation der einzelnen Stämme in „Reservate“ schloß schließlich sogar die Assimilierten wie die Chicksaw oder die Cherokee im Süden ein, die Ackerbau betrieben und sogar Sklaven hielten. Mit dem Argument, die Indianer würden das Land nicht angemessen nutzen, machten sich die Weißen ein gutes Gewissen. Das betrifft im übrigen auch deutsche Siedler, wie man in Johannes Gillhoffs auf Originalbriefen beruhendem Roman „Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer“ nachlesen kann, der von Mecklenburgern handelt, die vor Not und Elend in ihrer Heimat geflohen sind. Daß Indianer dem Rassismus, der in ihnen menschliche Wesen niederer Stufe sah, mit anti-weißem Rassismus beantworteten, muß niemanden wundern und zeigt nur, wie wenig allgemeinmoralische Betrachtungen auch in dieser Sache taugen. Rassenhaß, frisch vom Faß, um es mit einem leicht verwandelten Satz Wiglaf Drostes zu sagen, diente als ideologischer Kitt indigenen Widerstands.


Pekka Hämäläinen: Der indigene Kontinent. Eine andere Geschichte Amerikas. Verlag Antje Kunstmann, München 2023, 651 Seiten, 48 Euro

Wenn Hämäläinen nicht jedem eine neue Sicht bietet, wie sie der Klappentext verspricht, so bringt er doch allen einen kompendialen Überblick. Für wacklig halte ich sein theoretisches Gerüst. Der Autor spricht nicht von Stämmen, sondern von Nationen, wie es die Indianer selber tun. Das führt in die Irre. Als „Höhepunkt der indigenen Macht konstatiert der finnische Oxford-Professor das Imperium der Comanchen in den 1840er Jahren im Süden der USA. Aber wir reden hier von 40.000 Leuten. Mehr waren es laut Hämäläinen nicht. Eine Nation, der nur halb so viel Menschen angehören, wie Zwickau heute Einwohner hat?

Formationsgeschichtliches Denken à la Marx ist zwar nicht Mode, könnte aber weiterhelfen. Insbesondere indem es konstatiert: Auf dem amerikanischen Kontinent waren die indianischen Gemeinschaften mit einem eher urgesellschaftlichen Entwicklungsstand der Produktivkräfte der von Europa ausgehenden phänomenal dynamischen Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse mit ihren nie dagewesenen Möglichkeiten der Erzeugung von Gütern im Wege. Wenn sie sich gegen die Eindringlinge wehren wollten, mußten sie bei denen Gewehre kaufen. Selber herzustellen vermochten sie die nicht, auch keine Artillerie, keine Eisenbahnen, keine Telegraphen. Ihr Widerstand über Jahrhunderte hinweg, da läßt sich Hämäläinen folgen, hat den nordamerikanischen Indianern das Überleben gesichert. Für die USA (und Kanada nicht zu vergessen) eine Kontinuität des „indigenen Kontinents“ bis heute anzunehmen, klingt nach Wunschdenken. Es waren nicht die Indianer, die Vietnam in die Steinzeit zurückbomben wollten. Sie hätten es auch gar nicht gekonnt.

Der Text erschien am 22. Mai 2024 in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ (hier klicken)