Auf stillen Wegen

Februar 1991: Verfassungschützer und MfS-Generale einigten sich über Straffreiheit für DDR-Spione. Doch die Politik gab ihren Segen nicht

Von Holger Becker

„Ohne Großmann brauchen Sie gar nicht erst zu erscheinen“, hatten die Leute vom Verfassungsschutz erklärt. Gemeint war der letzte Chef der DDR-Spionage und Markus-Wolf-Nachfolger Werner Großmann. Und der kam mit in die Ostberliner Glinkastraße, als sich im früheren Sitz des DDR-Innenministeriums am 15. Februar 1991 Geheimdienstprofis mit Geheimdienstprofis trafen.

Aus dem Archiv von Gerhard Niebling

Aus Köln waren an jenem Tag der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Gerhard Boeden und dessen designierter Nachfolger Eckart Werthebach angereist. Ihnen saßen außer Großmann vier weitere Generale des aufgelösten Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) gegenüber: der Chef der MfS-Spionageabwehr Günter Kratsch, die Leiter der Hauptabteilung für Kader und Schulung bzw. der Zentralen MfS-Koordinierungsgruppe Günter Möller und Gerhard Niebling sowie der de facto letzte Chef des DDR-Geheimdienstes Heinz Engelhardt, der 1990 die Auflösung des in Amt für Nationale Sicherheit umbenannten Apparates gemanagt hatte. Hauptthema des Gesprächs: Was sollte mit den noch nicht entdeckten DDR-Spionen nun im wiedervereinigten Deutschland geschehen?

Gerhard Niebling (1932 bis 2003), im MfS einst Partner des diskreten DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel, erinnerte sich im Gespräch mit dem Autor (das war im Jahr 2000), an die Vorgeschichte des in aller Stille angebahnten Treffens: Vorausgegangen sei ein Brief mehrerer MfS-Generale an den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, in dem die DDR-Geheimdienstler signalisierten, „zur Lösung der IM-Probleme auch in der alten BRD” bereit zu sein. Schon wenige Tage später sei telefonisch Schäubles Zustimmung zu Gesprächen mit der BfV-Spitze mitgeteilt worden.

Die Interessen beider Seiten lagen klar auf der Hand: Die MfS-Generale wollten vor allem eine eventuelle strafrechtliche Verfolgung der DDR-Spione im Westen abwenden, die Verfassungsschützer deren Übernahme durch andere Geheimdienste, insbesondere durch das sowjetische KGB, verhindern.

Laut Nieblings Gedächtnisprotokoll über das Gespräch vom 15. Februar 1991 war ein Modus vivendi schnell gefunden. Boeden und Werthebach seien dabei den Überlegungen der MfS-Generale gefolgt, die ein Modell der Kooperation im beiderseitigen Interesse vorgeschlagen hatten. Danach wäre allen DDR-Spionen, die sich den Behörden der Bundesrepublik selbst stellten, Straffreiheit zugesagt worden. Die MfS-Generale hätten ihre Möglichkeiten genutzt, schnell Kontakt zu den Betroffenen herzustellen und ihnen die Modalitäten für eine Selbstanzeige zu erläutern.

Eingeschaltet werden in die Operation sollten Rechtsanwälte wie der spätere Honecker-Verteidiger Friedrich Wolff, aber auch Kanzleien in Israel, Großbritannien und Norwegen. Die MfS-Generale versicherten, daß vor der vollständigen Auflösung des DDR-Geheimdienstes an alle „operativen Bereiche” Weisungen erteilt worden seien, keine IM an das KGB zu übergeben. Für eigenmächtige Entscheidungen einzelner früherer Mitarbeiter könne man nun allerdings keine Verantwortung mehr übernehmen.

Schäubles Abgesandte hatten sich schon zuvor davon überzeugen können, daß es den DDR-Geheimdienstlern ernst damit war, die brisanten Probleme zu entschärfen, die sich aus der Auflösung des MfS ergaben. So war der Zentrale des Verfassungschutzes vor dem Gespräch ein Papier der Generalsgruppe übermittelt worden, das noch aus dem ersten Halbjahr 1990 stammte und Überlegungen zu „deutsch-deutschen Geheimdienstproblemen” enthielt. In Anbetracht der kommenden Vereinigung beider deutscher Staaten sprachen sich die an der Auflösung des MfS beteiligten Verfasser dafür aus, eine „Loyalitätserklärung” abzugeben. Sie sollte das „Bekenntnis zur freiheitlichen, demokratischen und sozialen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes der BRD” beinhalten und auch die Versicherung, „jegliche nachrichtendienstlichen Aktivitäten gegen die Interessen Deutschlands” zu unterlassen.

Schauplatz des Geheimdienstler-Treffens am 15. Februar 1991 waren Räume des vormaligen DDR-Innenministeriums in Berlin. Der Gebäudekomplex zwischen Behrenstraße und Französischer Straße in der Berliner Friedrichstadt wurde ab 1872 als Zentrale der Deutschen Bank errichtet. Er steht heute überwiegend leer. Allerdings hatte dort 2015 zeitweilig die Produktionsfirma der US-TV-Serie „Homeland“ ihren Sitz. Die fünfte Staffel von „Homeland“ – die Serie glorifiziert unterhaltsam den US-Geheimdienst CIA – spielte in Berlin Foto: Holger Becker

Laut dem überlieferten Text, den der Ex-General Edgar Braun mitformulierte, sollte alles getan werden, um die ehemaligen MfS-Mitarbeiter auch im Interesse der inneren Sicherheit der Bundesrepublik zur „Wahrung der Geheimhaltung” anzuhalten. Bedingung sei allerdings, daß „keine soziale Ausgrenzung jetzt und in Zukunft erfolgt”. Ebenso sollte eine strafrechtliche Verfolgung der Ex-MfS-Bediensteten „wegen ihrer staatlichen Tätigkeit” unterbleiben.

Das Papier, das bereits Vorschläge zu den Modalitäten der Selbstanzeige von DDR-Spionen unterbreitete, enthielt auch den Satz: „Es erfolgte keine Übergabe von IM an andere Geheimdienste (z. B. an das KGB).”

Auf dieser Grundlage konnten sich die Geheimdienstler aus Ost und West am 15. Februar 1991 schnell einigen. Das Gespräch, so Nieblings Erinnerung, sei „von vornherein in einer sachlichen und kollegialen Atmosphäre“ verlaufen. Boeden habe dabei die Bildung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe vorgeschlagen, der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und ehemalige MfS-Offiziere angehören sollten. Die Generale aus dem Osten ihrerseits wollten eine Arbeitsgruppe mit dem Ziel, spektakuläre Enttarnungen von IM auf dem ehemaligen DDR-Territorium zu verhindern.

Boeden, so Nieblings Gedächtnisprotokoll, wollte schließlich noch vom Ex-Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) Großmann wissen, ob denn im Zuge der besprochenen Vereinbarung das „leidige NATO-Problem“ geklärt werden könne. Der Verfassungsschutz stünde in dieser Sache unter dem permanenten Druck der Alliierten. Immerhin wußte der Westen schon um die Existenz des IM „Topas“ in der Brüsseler NATO-Zentrale, hatte den DDR-Spion Rainer Rupp aber noch nicht als solchen identifiziert. Großmann versicherte, auch diese Angelegenheit könne mit einer Selbstanzeige bei Zusicherung von Straffreiheit erledigt werden.

Man trennte sich mit kollegialem Händedruck. Zuvor hatte Boeden betont, daß die Vereinbarung selbstverständlich noch des „Segens der Politik” bedürfe. Doch mit einer positiven Entscheidung sei in zehn bis vierzehn Tagen zu rechnen.

Doch daraus wurde nichts. Gerhard Boeden (1925 bis 2010) bestätigte zwar bei einem Telefonat im Jahr 2000 das Treffen mit den fünf MfS-Generalen am 15. Februar 1991 in Berlin. Doch zum Verlauf des Gesprächs („vierzehn Tage vor meiner Pensionierung“) wollte er sich nur noch erinnern, daß es „denen um ihre Renten ging“. Von damals besprochenen Modalitäten für eine Selbstanzeige der DDR-Spione könne keine Rede sein. Die andere Seite habe allenfalls zugesagt, dafür zu sorgen, alle Aktivitäten der IM im Westen zu beenden. Laut Nieblings Gedächtnisprotokoll war es allerdings Gerhard Boeden, der damals sogar die Frage der Renten für die MfS-Konfidenten im Westen ansprach.

Niebling und andere der damals beteiligten MfS-Generale entwickelten ihre eigene Theorie, warum der an jenem 15. Februar abgesteckte „stille Weg” dann doch nicht beschritten worden ist. Zum einen hätten „hochrangige Verräter” aus den Reihen der HVA solche Spitzenquellen wie die im Bundesnachrichtendienst tätige Gabriele Gast sowie Rainer Rupp (IM „Topas“) ans Messer geliefert. Und vielleicht noch wichtiger: Eine Gruppe von Offizieren aus dem Bereich der elektronischen Abwehr und Aufklärung (MfS-Hauptabteilung III) hätte kofferweise Karteikarten und Abhörprotokolle – vorwiegend Material über bundesdeutsche und Westberliner Politiker – „zu den Diensten und zu Medien nach Westberlin“ geschleppt. Damit sei der Kenntnisstand über das MfS-Wissen schlagartig gewachsen. Eine Kooperation mit der MfS-Generalsgruppe habe man nicht mehr für nötig gehalten und auf Strafverfolgung umgeschaltet.

Immerhin: Trotz des Scheiterns der Gespräche warnten Niebling und sein Generalskollege Günter Möller noch im Frühjahr 1991 ehemalige MfS-Mitarbeiter: „Der innere Frieden im Lande, in dem wir alle – ob wir das wollen oder nicht – leben, darf nicht durch Handlungen und Aktivitäten ge- oder zerstört werden, die in den Bereich der Subversion eingeordnet werden müßten.” In ihrem überlieferten Brief an ehemalige Leitungskräfte des DDR-Geheimdienstes plädierten die beiden dafür, „gegen Ausgrenzungen und Diskriminierungen alle nur möglichen rechtsstaatlichen Mittel” zu nutzen. „Eindringlich“ warnten die Verfasser vor „jeglichen ausländischen Geheimdienstkontakten“. Im Mittelpunkt stehe dabei „unser ehemaliger Hauptverbündeter, der eigenen Interessen folgend offensichtlich keine oder wenig Rücksicht auf das Schicksal der 85.000 Ehemaligen nimmt”.

Den Adressaten des Briefes, zu denen auch der ehemalige Leipziger MfS-Chef Manfred Hummitzsch gehörte, rieten Niebling und Möller, sich Gesprächen mit „Vertretern der Abwehrorgane des Landes“ nicht zu verschließen und „die Möglichkeiten ruhiger, vernünftiger Lösungen in Einzelfällen“ zu beraten. Es gehe „nicht um Verrat“, sondern um „humanitäre Lösungen für die Betroffenen“, denen im Fall einer Verhaftung keiner der Ex-MfSler helfen könne. 

Oktober 2000