Back Channel in den Osten
Der verschwiegene Tod des einstigen DDR-Unterhändlers Hermann von Berg
Von Holger Becker
„Die von der West-Stasi, das sage ich Dir, die sind voll kriminell“. Sätze wie diesen feuerte Hermann von Berg im Dreisekundentakt ab und in einer Lautstärke, die dem Partner am anderen Ende der Leitung fast den Telefonhörer vom Ohr fetzte. In den 1990er und den 2000er Jahren rief er öfters an. Er hatte Neuigkeiten aus dem Kampf um sein Haus in Schöneiche bei Berlin zu vermelden, die unbedingt an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Dieses Haus beanspruchte ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes als Erbe der „Alteigentümerin“ für sich. Hermann von Berg, der vor seinen Namen einen Doktor und einen Professor setzen durfte, hatte dieses Haus, das er nach der „Wende“ wieder bewohnte, 1986 verlassen, als er aus der DDR in den Westen ging, wobei ihm zwei Herren namens Willy Brandt und Egon Bahr halfen.
Was schon andeutet: Das Leben des 1933 geborenen Hermann von Berg spielte sich zum Teil in höheren politischen Sphären ab. Vieles von dem, was er tat, fand in den Grau- und Dunkelzonen des Kalten Krieges statt und ist bis heute von Geheimnissen umwittert. Am meisten wohl jenes Ereignis, das zur Jahreswende 1977/78 die Nachrichtenlage im Herzen Europas dominierte.
Einen Tag nach Neujahr 1978 veröffentlichte der „Spiegel“ ein bereits zu Silvester mit „Klappermeldungen“ angekündigtes „Manifest“ eines angeblich in der DDR existierenden „Bundes Demokratischer Kommunisten“. Zu diesem Bund hätten sich laut „Spiegel“ mittlere und höhere SED-Funktionäre „aus den Kernzellen der ostdeutschen Staatspartei“ zusammengeschlossen. Der in saftiger Sprache gehaltene Text hatte es in sich. An vorderer Stelle wetterte er gegen „sowjetische Orthodoxie“ und die „roten Päpste im Kreml“, gegen die UdSSR als „imperialistisches Zentrum“ und gegen die KPdSU-Oberhäupter als Leute vom „neofaschistischen Typ“. Für Deutschland forderte er eine „offensive nationale Politik“, ein „Konzept, das auf die Wiedervereinigung Deutschlands zielt“.
Nachdem diese Bomben gelegt waren, keilte der vorgebliche Bund im nächsten „Spiegel“-Heft mit einem zweiten Teil speziell gegen die DDR-Führung aus. Keine herrschende Klasse in Deutschland habe jemals so schmarotzt, heißt es in diesem Kapitel „Zur inneren Situation der DDR“. In dem ging es sehr persönlich zu. Die meisten und heftigsten Angriffe richteten sich – seltsamerweise – gegen Werner Lamberz, jüngstes Mitglied des SED-Politbüros, zuständig für die DDR-Medien, gebildet, weltgewandt und wegen seiner unkonventionellen und so gar nicht moskowitisch-funktionärshaften Art in der DDR-Bevölkerung Träger von Hoffnungen für einen neuen Politikstil in einer Zeit nach Erich Honecker. Lamberz, im „Manifest“ drei Mal „LüLa“ (= Lügen-Lamberz) genannt, starb nur wenige Wochen später am 6. März 1978 bei einem bis heute mysteriösen Hubschrauberabsturz in Libyen.
Den Begriff „Fake News“ gab es zu dieser Zeit noch nicht im deutschen Sprachraum. Aber die Frage nach der Echtheit des „Spiegel-Manifests“ beschäftigte ganze Heerscharen in Politik und Journalismus. Gibt es tatsächlich eine Oppositionsbewegung unter DDR-Funktionären? Und was sollen die über das damals führende Politmagazin der Bundesrepublik vorgetragenen Angriffe in einer Zeit, als Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und SED-Generalsekretär Erich Honecker einen Faden des Gesprächs zur deutsch-deutschen Entspannung gefunden haben? Herbert Wehner, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag – ihm war die Annäherung insbesondere zu verdanken – sprach von einer „Provokation“. Jene Leute, die den „Explosionsstoff“ gemixt hätten, „können sich heute nicht nur die Hände, sondern auch andere Körperteile reiben“, sagte Wehner dem Hessischen Rundfunk. Die DDR ihrerseits sprach von einem Machwerk des Bundesnachrichtendienstes, was Schmidt nicht weiter wehtat, da der BND als CSU-affin galt.
Am 10. Januar 1978 gab die DDR die Schließung des „Spiegel“-Büros in Ost-Berlin bekannt. Schmidt befand das bei einem Telefonat mit Honecker am 18. Januar 1978 als Reaktion auf das „Störmanöver“ für „zu weitreichend“, „weil sie Ihnen ausgelegt werden kann als Nervosität“. Auf Honeckers Bemerken, diese „Angriffe unter die Gürtellinie“ habe man nicht unbeachtet lassen können, erwiderte sein Gesprächspartner: „Ich verstehe das völlig. Und die waren ja auch mit Sorgfalt ausgewählt und gezielt, die Stellen, auf die da geschossen wurde.“
So weit wir heute wissen, war es Hermann von Berg, der Ende 1977 dem „Spiegel“-Korrespondenten Ulrich Schwarz jenes provokative „Manifest“ in die Feder diktierte. Wozu zwei Sitzungen im besagten Haus in Schöneiche stattgefunden haben sollen. Das Manuskript, aus dem von Berg vorlas, sei sofort vernichtet worden. Beim „Spiegel“ hätten außer Ulrich Schwarz nur Chefredakteur Erich Böhme, Verlagsdirektor Hans Detlev Becker und Herausgeber Rudolf Augstein von der Rolle des Ostberliner Professors gewußt. Augstein habe die Sache allerdings seinem FDP-Kumpel Jürgen Möllemann und der sie dann dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gesteckt, behauptete von Berg 1999 unter Vorlage eidesstattlicher Versicherung gegenüber dem Berichterstatter, nachdem der ehemalige Geheimdiplomat seine MfS-Akten durchgesehen hatte.
Wie auch immer. Der 1933 in Mupperg Geborene, der Ort liegt im fränkisch geprägten Süden Thüringens direkt an der Grenze zu Bayern, war damals bei entscheidenden Leuten im Westen kein Unbekannter. Als geheimer Unterhändler der DDR bewies er, der in Leipzig Ökonomie, Geschichte und Philosophie studiert hatte, lange Zeit viel Geschick. So 1963, als er hinter den Kulissen mit dem damaligen Chef der Westberliner Senatskanzlei Dietrich Spangenberg das „Passierscheinabkommen“ aushandelte, das Westberlinern erstmals seit dem Mauerbau den Besuch ihrer Verwandtschaft im Osten ermöglichte. So in der Vorbereitung der Treffen zwischen den deutschen Regierungschefs Willi Stoph und Willy Brandt 1970 in Erfurt und Kassel. So bei regelmäßigen konspirativen Gesprächen mit Brandts Chefunterhändler Egon Bahr während der offiziellen Verhandlungen zum Grundlagenvertrag zwischen DDR und BRD 1972. Herrmann von Berg war Willy Brandts Back Channel in die DDR.
Daß der Mann für den Geheimdienst der DDR arbeitete, störte die Westseite offenbar nicht. Gerüchte, er sei „Stasi-Oberst“, erhöhten seine Reputation sogar. In der Tat: Seit er 1962 zum Chef der Abteilung für Internationale Verbindungen im DDR-Presseamt aufgestiegen war, führte ihn die für Spionage zuständige Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS als IM „Günther“. Die Chefs von MfS und HVA, Erich Mielke und Markus Wolf, instruierten ihn laut der vorliegenden Akten nicht selten persönlich, zum Beispiel für die Gespräche mit Egon Bahr zum Grundlagenvertrag, in denen zum Teil vorab geklärt wurde, was Bahr dann mit dem offiziellen DDR-Unterhändler Michael Kohl ausmachte. Schon wegen Mielkes und Wolfs besonderer Verpflichtung gegenüber ihren Moskauer geheimdienstlichen Ziehvätern saß auch immer die Sowjetunion mit am Tisch. Die HVA hatte von Berg allerdings 1971 schrittweise aus dem Geschäft zurückziehen wollen, bemängelte bei ihm „unbeherrschtes und unkontrolliertes Handeln“. Doch laut einem HVA-Bericht unterlief ausgerechnet die Westseite dieses Vorhaben. „Es gibt offenbar intensive Bemühungen, den IM im Gespräch zu halten“, heißt es dort.
Doch das mag eine innerbetriebliche Legendierung im MfS gewesen sein. Wenn von Berg insbesondere auf Initiative von Egon Bahr im Spiel blieb – und das gerade während der deutsch-deutschen Verhandlungen zum Grundlagenvertrag – kann es auch daran gelegen haben, daß er möglicherweise parallel für den sowjetischen Geheimdienst KGB arbeitete. Meint jedenfalls die Historikerin Daniela Münkel in einem Text über „Die Stasi und Willy Brandt“, in dem sie sich auf den Journalisten Dettmar Cramer beruft, der zu den Kontaktpartnern und Freunden des Geheimdiplomaten im Westen gehörte, ja selbst für die Bonner Spitzen ähnliche Aufträge ausführte wie von Berg für die DDR.
Sollte Münkels Vermutung zutreffen, hätten wir es beim „Spiegel-Manifest“ mit einem Stück aus dem Tollhaus zu tun. Das Geschoß wäre via Hamburg aus Moskau abgefeuert worden, um bei Honecker in Ostberlin einzuschlagen. Die Sache hätte durchaus ihre Logik. Honecker war seinen Förderern in der KPdSU-Spitze viel zu schnell viel zu eigenmächtig geworden. Er verständigte sich mit dem westdeutschen Kanzler, während die Sowjetunion in der DDR neue Mittelstreckenraketen aufstellte, einfach am Telefon, was Emissäre wie von Berg und Cramer zum Teil überflüssig und die deutsch-deutschen Kontakte für Moskau undurchsichtig machte. Die Wortmeldung eines angeblichen oppositionellen Bundes von SED-Funktionären, die den sowjetischen Führungsanspruch in Frage stellten, von Wiedervereinigung träumten und direkt Führungsfiguren aus dem SED-Politbüro angriffen, signalisierte: Sowas kommt von sowas. Der Honecker hat seinen Laden nicht im Griff und kann die Bündnistreue der DDR nicht mehr garantieren. Nach dem Wirbel um die Biermann-Ausbürgerung 1976 und die noch nicht einmal beigelegte „Kaffeekrise“ von 1977 beschädigte das „Spiegel-Manifest“ Honecker erheblich und barg die Gefahr, den Faden des deutsch-deutschen Dialogs zu zerschneiden.
Hermann von Berg kam sehr glimpflich davon. Am 9. Januar 1978 wurde er verhaftet, am 9. März 1978 wieder auf freien Fuß gesetzt. Nach seiner Auskunft ist er in dieser Zeit im MfS-Gefängnis Hohenschönhausen verhört worden. Ehemalige MfS-Offiziere hingegen behaupten, er habe Hohenschönhausen nie von innen gesehen und sei in einer konspirativen Villa gewesen.
Als er 1986 in den Westen ausreisen durfte, hatten ihm seine Gönner aus der SPD-Spitze nichts sonderlich Attraktives zu bieten. Er landete an der Universität Würzburg, agierte unter den Fittichen des Professors Lothar Bossle, eines nicht gerade wohlbeleumdeten Soziologen mit Sympathien für das chilenische Pinochetregime. Als von Berg 1990 wieder nach Berlin und Schöneiche kam, zeigte sich bald, daß kaum was dran gewesen war an dem „Bund demokratischer Kommunisten“. Denn noch nachträglich versuchte er Mitglieder dafür zu rekrutieren. Auf Zweifel an seiner Version reagierte er mit einer für sein Naturell erstaunlichen Toleranz.
Hermann von Berg starb am 21. März 2019. Der Berichterstatter erfuhr von seinem Tod am 26. April, aber nicht aus der Zeitung, sondern von einem Freund. Eine Mail an Deutschlands führende Presseagentur namens Deutsche Presseagentur führte zu keiner Reaktion. Der Freund informierte mehrere Zeitungen und Zeitschriften. Die „junge Welt“ meldete dann am 2. Mai von Bergs Ableben. „Neues Deutschland“ brachte am selben Tag einen Nachruf. Der „Spiegel“, obwohl informiert, hat den Tod Hermann von Bergs bis heute nicht mitgeteilt. Ebensowenig die „Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die „Süddeutsche Zeitung“, die 1978 meterweise Texte zur Affäre um das „Spiegel-Mani-fest“ druckten. Dröhnendes Schweigen. „Die spielen“, hätte Hermann von Berg vielleicht gesagt, „Kaninchen im Rübenfeld.“
Juli 2019