„Eigentlich unglaublich…“

Bomben auf Belgrad oder: Wie der Krieg vor einem Vierteljahrhundert wieder nach Europa kam

Von Holger Becker

Franz Josef Degenhardts Album „Weiter im Text“, veröffentlicht 1999 vor Beginn des NATO-Angriffs auf Jugoslawien

„Eigentlich unglaublich,
daß ihnen das immer wieder gelingt…
Deinem Urgroßvater haben sie erzählt:
Gegen den Erbfeind.
Für das Vaterland.
Und er hat das tatsächlich geglaubt.
Was hat er gekriegt?
Granatsplitter in Beine
Und Kopp
Vor Verdun.

Deinem Großvater sagten sie:
Gegen die slawischen Horden.
Für die abendländische Kultur.
Er hat das wirklich geglaubt.
Was hat er gekriegt?
Bauchschuß und
Einen verrückten Kopp
Vor Stalingrad.

Deinem Vater erzählen sie jetzt:
Gegen die Völkermörder.
Für die Menschenrechte.
Für den Frieden.
Unglaublich – er glaubt’s.
Was er wohl kriegt?
Und wo wird das sein –
Diesmal?“

Nachdem die NATO am 24. März 1999 etwa gegen 19 Uhr unter deutscher Beteiligung und ohne UN-Mandat damit begonnen hatte, den souveränen Staat Jugoslawien zu bombardieren, machte am nächsten Morgen eine deutsche Tageszeitung ihre Seite 1 mit diesen Zeilen von Franz-Josef Degenhardt (1931 bis 2011) auf. Auf die Frage von deren Chefredakteur nach Erlaubnis zum Abdruck des Gedichts erwiderte der Sänger und Dichter am Telefon in Erwartung des Angriffs: „Klar darfst Du das. Aber warte, ich melde mich noch mal.“ Nach wenigen Minuten war Degenhardt wieder am Apparat: „Also paß auf, in der dritten Strophe füge bitte hinter der dritten Zeile `Für den Frieden’ ein.“ Seitdem ist das Lied um diese drei Worte, die einer verlogenen Propaganda Paroli bieten, länger.

Für das oft als „wiedervereinigt“ bezeichnete Deutschland brachte der 24. März 1999 eine tiefe Zäsur. Erstmals seit dem 8. Mai 1945 nahm deutsches Militär an Kriegshandlungen teil. Möglich machte das eine neue Bundesregierung, zu der sich nach der Wahlniederlage Helmut Kohls vom September 1998 SPD und Bündnisgrüne zusammengetan hatten, mit Gerhard Schröder als Kanzler und Joseph Fischer als Außenminister. Schon im Oktober 1998, da waren sie noch gar nicht in ihren Ämtern, signalisierten Schröder und Fischer dem US-Präsidenten William Clinton, Deutschland werde mitmachen beim antiserbischen Feldzug, den das Weiße Haus um jeden Preis wollte. Für die beiden Parvenüs, die am 15. Oktober in Washington zum Vorstellungsgespräch bei der Vormacht antreten mußten, öffnete sich damit der Zugang zu den höchsten Regierungsämtern im Lande, die sie am 27. Oktober 1998 einnehmen durften.

Erich Honecker und Helmut Kohl am 7. September 1987 in Bonn. Sie waren einig mindestens in einer Frage: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen
Foto: ADN-Zentralbild, Klaus Oberst, Bundesarchiv, Bild 183-1987-0907-017 / CC-BY-SA 3.0

Mit Helmut Kohl, der bis dahin als Kanzler amtierte, hätte es eine deutsche Beteiligung am NATO-Bombardement und damit den Überfall auf Restjugoslawien nicht gegeben. Meint immerhin Willy Wimmer, ein Mann mit CDU-Parteibuch, der bis 1992 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium war. Jeder mag von Kohl halten, was er will. Aber: „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg, von deutschem Boden muß Frieden ausgehen.“ Diesen Satz hatte er schon am 12. März 1985 in einer gemeinsamen Erklärung mit DDR-Staatschef Erich Honecker unterschrieben, als sich die beiden in Moskau bei den Feierlichkeiten für den verstorbenen KPdSU-Generalsekretär Konstantin Tschernenko trafen. Diese in den Folgejahren mehrfach bekräftigte deutsch-deutsche Friedensverpflichtung galt in beiden deutschen Republiken als Teil der Staatsräson, und so auch nach dem 3. Oktober 1990 zwischen Rhein und Oder. Schröder und Fischer kündigten sie auf. Sie begründeten ihr Tun wie von Degenhardt beschrieben: „Gegen die Völkermörder. Für die Menschenrechte. Für den Frieden.“

Für die Lügen jedenfalls, die den Deutschen aufgetischt wurden, um den völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Angriffskrieg schmackhaft zu machen, reichte keine Kuhhaut. So phantasierte SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping von einem dann durch die Medien geisternden „Hufeisenplan“, nach dem die Serben angeblich die Albaner aus dem Kosovo systematisch vertreiben wollten. Wie Ex-Bundeswehrgeneral Heinz Loquai (1938 bis 2016) nachwies, gab es diesen Plan, an dessen Existenz kritische Geister von Anfang an zweifelten, einfach nicht. Aber, so Loquai, „Scharping löschte mit dem ‘Hufeisenplan’ die Kritik an diesem Krieg.“ Ähnliche Löschversuche startete der zeitweilige SPD-Vorsitzende und heutige Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer mit seinen Behauptungen, die Serben hätten Konzentrationslager eingerichtet, in denen die Albaner wie Vieh gehalten würden. Originalton von damals: „Im Kosovo wird nach Angaben Scharpings jetzt folgendermaßen verfahren: Das Dorf wird umstellt, Scharfschützen nehmen ihre Positionen ein. Die Bevölkerung wird auf dem Dorfplatz zusammengetrieben. Die Männer im Alter zwischen 16 und 60 Jahren werden entweder gleich ermordet oder sie kommen in Konzentrationslager“ (Die Welt vom 1. April 1999).

Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (links) mit seinem US-Amtskollegen William S. Cohen am 8. Februar 1999 in Bonn
Foto: United States Departemt of Defense

Was in die von Deutschlands Medien fast unisono geschürte Stimmung paßte, nur Serben hätten in den blutigen Auseinandersetzungen beim Zerfall Jugoslawiens Verbrechen begangen, so wie es schon 1915, im Ersten Weltkrieg, der damalige Operettenstar Hermann Wehling nach einer bis heute bekannten Melodie von Walter Kollo kriegsschuldzuweisend trällerte: „Die Serben sind alle Verbrecher, ihr Land ist ein finsteres Loch…“

Eins drauf setzte noch der ehemalige Straßenkämpfer und Bücherdieb Joseph Fischer, der Deutschlands bombige Aktivitäten mit dem Ruf: „Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!“ begründete. In Jugoslawien, wo man sich selbstverständlich noch an die deutschen Bomben erinnern konnte, die 1941 weite Teile Belgrad zerstörten, kostete der Antifaschismus nach Art des donauschwäbischen Metzgersohnes Fischer rund 3.500 Menschen das Leben, etwa 10.000 wurden verletzt. Die Folgeschäden, die der Einsatz radioaktiv strahlender Geschosse mit hoher Durchschlagskraft, der sogenannten Uran-Munition (insgesamt etwa 10 Tonnen davon wurden verschossen) anrichtete, lassen sich nur erahnen.

Ein ewig grinsender Sprecher der NATO namens Jamie Shea brachte damals in seiner täglichen Pressekonferenz den Begriff „Kollateralschaden“ in Umlauf, womit insbesondere das Töten von Zivilisten als angeblich ungewollter Begleitumstand gemeint war. Tatsächlich wurden den NATO-Piloten, unter ihnen die Flugzeugführer von 14 Bundeswehr-Tornados – auch nichtmilitärische Ziele zugewiesen. So fielen in der Nacht des 23. April 1999 Bomben auf das Belgrader Fernseh- und Rundfunkzentrum. Sie zerstörten das Haus, in dem zu dieser Zeit Journalisten und Techniker ihrer Arbeit nachgingen.16 Mitarbeiter starben. In Schutt und Asche gebombt wurde eine neurologische Klinik in Belgrads Hauptstadt. 300 bis 350 Einsätze flogen die NATO-Bomber pro Tag – gegen Raffinerien, Chemiefabriken, Kraftwerke, das Zastava-Autowerk in Kragujevac, Flüchtlingstrecks, Bahnlinien, Düngemittelfabriken. Zum Einsatz kamen Marschflugkörper und Streuwaffen. Daß hier auch ein Krieg gegen Europa im Interesse einer fremden großen Macht stattfand, dämmerte wenigen, und auch erst, als zerstörte Brücken die Schiffahrt auf der Donau blockierten und zerbombte Straßen Warentransporte durch Jugoslawien unmöglich machten.

Bombenruine in Belgrad, fotografiert 2009
Foto: wikimedia commons / wusel007/ CC BY-SA 3.0 Deed

Vor der Masse der Bundestagsabgeordneten und selbst vor leitenden Leuten im Auswärtigen Amt hielten Schröder und Fischer geheim, mit welchen Schlichen die US-kommandierte NATO den von ihr unbedingt gewollten Krieg vom Zaun brach. Offiziell hieß es, Jugoslawiens Führung unter Slobodan Milošević (1941 bis 2006) habe den über Monate im französischen Schloß Rambouillet verhandelten „Friedensvertrag“ mit der Führung der Kosovo-Albaner nicht unterzeichnet, weshalb jetzt die Waffen sprechen müßten. Daß aber der von der NATO ausgearbeitete „Rambouillet-Vertrag“ durch einen speziellen Anhang quasi ein Besatzungsstatut für Restjugoslawien dargestellt und den totalen Verlust staatlicher Souveränität bis hin zur Straffreiheit für alle Handlungen der NATO-Besatzungstruppen nach sich gezogen hätte, wurde verschwiegen. Auch die jugoslawischen Verhandler bekamen diesen „Annex B“ erst kurz vor Ende der Verhandlungen zu Gesicht und hatten dreieinhalb Stunden Zeit, darüber zu befinden. Selbst Ex-US-Außenminister Henry Kissinger urteilte darüber: „Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können.“

Das Bombardement Jugoslawiens endete am 9. Juni 1999, nachdem Serbien zugestimmt hatte, der NATO das Kosovo als Protektorat zuzuweisen. Kriege sind bekanntlich die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. Der britische Journalist Neil Clark analysierte später, worum es bei der als „Luftschläge“ verharmlosten NATO-Tötungsoffensive insbesondere ging: In Miloševićs Restjugoslawien befanden sich noch 75 Prozent der Industrie im Staatsbesitz. Wo Betriebe privatisiert werden sollten, mußten die Arbeiter für den Verlust ihres Anteils am Firmenkapital entschädigt werden. Die Bombenangriffe der NATO richteten sich in erster Linie gegen staatliche Betriebe, viel weniger gegen militärische Anlagen. Nur 14 Panzer der jugoslawischen Armee wurden getroffen, immerhin aber 372 Industrieanlagen, darunter aber keine private Firma und kein Unternehmen in ausländischem Besitz. Nachdem Milošević beiseite geräumt war, bekam Serbien 2001 ein Privatisierungsgesetz, das „Investoren“ endlich bombige Perspektiven eröffnete.