Schmutziges Nest

Das Auswärtige Amt hat sich lange gesträubt, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Die Studie einer Historikerkommisson brachte Klärung


Von Holger Becker

Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Karl Blessing Verlag. München 2010, 880 Seiten. 34,95 Euro

Fragen nach der geschichtlichen Selbstdarstellung des Auswärtigen Amtes (AA) beantwortete dieses Ministerium auch in den Jahren seines grünen Chefs Joseph Fischer recht zugeknöpft. „Das Auswärtige Amt beabsichtigt nicht, seine Behördengeschichte selbst zu interpretieren“, antwortete mir im Jahr 2001 im Auftrag seines Ministers der damalige Chef des Politischen Archivs des AA, Dr. Hans Jochen Pretsch.

Dabei war es gerade eine ministerielle Selbstinterpretation dieser Behördengeschichte, die eine journalistische Nachfrage herausgefordert hatte. Der ohne den Segen der Amtsspitze kaum denkbare Text fand sich seinerzeit auf der offiziellen Internetseite des Hauses am Werderschen Markt in Berlins Mitte und trug den Titel „Die Geschichte des Auswärtigen Amtes – ein Überblick“. Tatsächlich gab die von Ludwig Biewer, dem damaligen Stellvertreter Pretschs, verfaßte Darstellung einen Abriß von 130 Jahren Geschichte von Bismarcks Zeiten bis in die Zeit der 1998 gestarteten rot-grünen Koalition. Was auffiel: Über die heiklen zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 wurden dem interessierten Leser nur spärliche Informationen geboten. Zwar war die Rede vom Einfluß, den die SS und das Reichssicherheitshauptamt auf den auswärtigen Dienst ausgeübt hätten. Erwähnt wurde die Abteilung „Deutschland“, die auch „jüdische Angelegenheiten“ bearbeitet habe. Doch die Verstrickung des AA, insbesondere zahlreicher seiner Elitebeamten, in die „Endlösung der Judenfrage“ schlug unter dem Begriff „Tragik“ zu Buche. Namen beteiligter Diplomaten fanden sich nicht, sondern nur eine Liste ministerieller Widerstandskämpfer.

Alles in allem vermittelte der Text das Bild eines nach damaligen Umständen honorigen Hauses: Das Amt sei zwar „kein Hort des Widerstandes“ gewesen, aber „genauso wenig eine von der SS beherrschte nationalsozialistische Behörde“. Die Wahrheit sei „irgendwo in der Mitte“ zu suchen: „Es gab einige wenige überzeugte Gegner des Nationalsozialismus und einige fanatische Anhänger dieser Ideologie unter den deutschen Diplomaten, daneben aber eine erhebliche Zahl von Mitläufern und Gleichgültigen, auch Menschen, die sich irgendwie arrangieren wollten und mußten. Der Auswärtige Dienst war in dieser Hinsicht nicht besser, aber auch nicht schlechter als die übrigen Deutschen.“

Die alliierten Sieger hatten das nach 1945 durchaus anders gesehen und bei der Diplomatenelite ein höheres Maß an Schuld als bei deutschen Postbeamten erblickt. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß verurteilte 1946 das internationale Tribunal den Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop zum Tode. Und noch 1948/49 endete der sogenannte Wilhelmstraßenprozeß mit Haftstrafen für acht führende Diplomaten, so für den Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, den Vater des späteren Bundespräsidenten. Im Wilhelmstraßenprozeß hob das amerikanische Militärgericht die aktive Rolle hervor, die das AA bei der Planung der Aggressionen Hitlerdeutschlands gespielt hatte. Im Urteil hieß es: „Wir halten jeden, der Angriffskriege und Einfälle plant, vorbereitet, beginnt und durchführt, und jeden, der wissentlich, bewußt und schuldhaft an solchen Handlungen teilnimmt, für einen Völkerrechtsverbrecher, der für seine Handlungen vor Gericht gestellt, verurteilt und bestraft werden muß.“

Warum wurde auf der offiziellen Internetseite des AA weder das Todesurteil gegen Ribbentrop noch der Wilhelmstraßenprozeß erwähnt? Pretsch mochte auf Details nicht eingehen. Der „Beitrag“ solle „weder eine historische Untersuchung ersetzen noch der politischen Wertung der Rolle des Auswärtigen Amtes vorgreifen.“ Er wolle „nur eine erste Information geben für Leser, die mit der Geschichte der Behörde nicht vertraut sind“.

Die Glaubwürdigkeit seines bündnisgrünen Chefs steigerte Pretsch damals nicht. Immerhin berief Fischer sich gern auf historische Lehren. „Nie wieder Auschwitz“ hieß der Satz, mit dem der einstige Kriegsgegner 1999 der deutschen Beteiligung am NATO-Bombardement Jugoslawiens die historisch-moralische Weihe verliehen hatte. Außerdem gab es biographische Gründe, die Fischer zur Obacht hätten ermahnen sollen. Spätestens seit seiner offiziellen Ungarn-Visite im Januar 1999 hatte sich herumgesprochen, daß der seinerzeitige Außenminister Abkömmling einer deutsch-ungarischen Metzgersfamilie ist und es sich bei „Joschka“ um die ungarische Koseform des Namens Joseph handelt. 1999 reiste Fischer auch nach Budakeszi, in den ehemaligen Wohnort seiner nach eigenen Angaben 1946 aus Ungarn vertriebenen Familie. Während dieser Osteuropa-Tour wurde er nicht müde zu betonen, daß er die Geschichte nicht so sehe wie die Vertriebenenfunktionäre: Die Nazis und niemand anderes sei an der Vertreibung der Deutschen schuld gewesen.

So wußte Fischer, daß Ungarn Schauplatz eines der krassesten Fälle verbrecherischer Aktivität des Auswärtigen Amtes gewesen ist. Immerhin hatte es die Budapester Regierung bis 1944 verstanden, eine Deportation ihrer jüdischen Bürger in die nazideutschen Vernichtungslager zu verhindern. Es war der deutsche Gesandte Edmund Veesenmayr, der daraufhin in enger Verbindung mit der Berliner AA-Zentrale einen Plan zur Einsetzung eines neuen und gefügigen ungarischen Kabinetts entwickelte und umsetzte. Ab März 1944 wurden dann in wenigen Monaten 200.000 der etwa 400.000 ungarischen Juden deportiert und ermordet. Auswärtiges Amt und Reichssicherheitshauptamt arbeiteten dabei Hand in Hand. Himmlers Beauftragter für den Abtransport der ungarischen Juden, der SS-Gruppenführer Winkelmann, wurde Veesenmayr unterstellt. Und zeitweise leitete Adolf Eichmann selbst die Deportation der jüdischen Opfer.

In der Berliner Wilhelmstraße machte sich damals ein Dr. Paul Karl Schmidt Gedanken darüber, wie die Judenjagd in Ungarn der Weltöffentlichkeit verkauft werden sollte. SS-Obergruppenführer Schmidt – nach dem Krieg schrieb er unter dem Künstlernamen Paul Carell vielverkaufte Kriegsbücher wie „Stalingrad” und „Wüstenfüchse“ und diente dem Verleger Axel Springer als Sicherheitsbeauftragter – arbeitet unter Ribbentrop als Leiter der Nachrichten- und Presseabteilung des Auswärtigen Amtes. Am 27. Mai 1944 schrieb er vorschlagshalber: „Aus einer recht guten Übersicht über die laufenden Judenaktionen in Ungarn entnehme ich, daß im Juni eine Großaktion auf die Budapester Juden geplant ist. Die geplante Aktion wird in ihrem Ausmaß im Auslande große Beachtung finden und sicher Anlaß zu einer heftigen Reaktion bilden. Die Gegner werden schreien und von Menschenjagd usw. sprechen und unter Verwendung von Greuelberichten die eigene Stimmung und auch die Stimmung bei den Neutralen aufzuputschen versuchen. Ich möchte deshalb anregen, ob man diesen Dingen nicht vorbeugen sollte dadurch, daß man äußere Anlässe und Begründungen für die Aktion schafft, z. B. Sprengstoffunde in jüdischen Vereinshäusern und Synagogen, Sabotageorganisationen, Umsturzpläne, Überfälle auf Polizisten, Devisenschiebungen großen Stils mit dem Ziele der Untergrabung des ungarischen Währungsgefüges. Der Schlußstein unter eine solche Aktion müßte ein besonders krasser Fall sein, an dem man dann die Großrazzia aufhängt.“

All das war im Jahr 2001 bekannt. Dennoch brauchte es bis 2005 für eine Reaktion des einstigen radikalen Straßenkämpfers, daß es nun ein Ende habe mit der Flucht vor der Wahrheit. Am 11. Juli 2005, kurz vor Toresschluß der rot-grünen Koalition im Herbst jenes Jahres, setzte Fischer eine Unabhängige Historikerkommission ein, die sich mit der AA-Vergangenheit befassen sollte. Immerhin! Daß die Kommission erst in der Zeit seines Nachfolgers im Amt ihre Arbeit aufnahm, ersparte Fischer sicher viel Ärger.

Das in Buchform vorliegende Ergebnis dieser Kommission hat in den letzten Wochen viel Wirbel verursacht. In der Tendenz ist es nicht eben überraschend für all jene, die den offiziösen Legenden nie Glauben geschenkt haben, im Detail aber sehr aufschlußreich. Es läßt sich kurz so zusammenfassen: Das AA war verstrickt in die menschheitsgeschichtlich beispiellosen Verbrechen des Dritten Reiches: in die Vorbereitung eines Angriffs- und Vernichtungskrieges, in die Ausplünderung eroberter Länder, in die Verfolgung und Ermordung Andersdenkender, in die industriemäßig organisierte Ermordung sechs Millionen europäischer Juden und anderer aus „rassischen“ Gründen verfolgter Menschen. Das diplomatische Personal agierte bei alledem nicht nur in der Funktion als gutinformierter Mitwisser, sondern als Mittäter, von dem auch Initiativen für Verbrechen ausgingen. Nicht stichhaltig sind Differenzierungen, nach denen die Verbrechen auf Kosten nach 1933 ins AA entsandter „echter“ Nazis gingen, die traditionelle und eigentliche diplomatische Elite dem Hitlerregime aber distanziert gegenüberstand. Vielmehr kam es nach 1933 zu regelrechten Eintrittswellen in NSDAP, SA und SS. Widerstand gab es auch, doch es war der Widerstand einzelner Menschen und aufs Gesamtpersonal des AA gerechnet, der Ausnahmefall.

Ernst von Weizsäcker mit seinem Sohn Richard, der später Bundespräsident wurde. Vater Weizsäcker gehörte als Marineoffizier zum Klüngel um die Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburg. Als Staatssekretär im AA war er an der Deportation von Juden in das Vernichtungslager Auschwitz beteiligt. Im „Wilhelmstraßen-Prozeß“ gegen führende Beamte des AA und anderer Nazi-Ministerien wurde er zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Sohn Richard fungierte dort als einer der Hilfsverteidiger. Das Foto entstand zu dieser Zeit
Quelle: Telford Taylor Papers, Arthur W. Diamond Law Library, Columbia University Law School, New York, N.Y. : TTP-CLS: 15-2-2-160

Im einzelnen bietet das Buch eine Fülle neuer Einsichten, so zum Beispiel in die Karriere des Ernst von Weizsäcker, der als junger Marineoffizier zum Klüngel um die Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gehört hatte und der 1938 im AA zu Staatssekretär aufstieg. Nun wissen wir auch, daß Weizsäcker in seiner Funktion als Gesandter in der Schweiz 1936 gegenüber dem AA die Ausbürgerung Thomas Manns befürwortete.

Was die „Wiederverwendung“ alter Nazis im neuaufgebauten AA der Bundesrepublik angeht, bestätigt der Kommissionsbericht die Vorwürfe des in den 1960er Jahre in der DDR herausgebeben „Braunbuchs“; Es waren überwältigend viele Nazidiplomaten, die wieder in der AA-Zentrale und auch in Botschaften auftauchten und es mit ihren Netzwerken vor allem jenen schwermachten, die im Dritten Reich gemaßregelt und in die Emigration getrieben worden waren, im auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Fuß zu fassen. So gab es sogar die offizielle Order, Remigranten nicht in ihren früheren Exilländern als Diplomaten einzusetzen – wohinter der Vorwurf steckte, die Flucht aus Deutschland während der Nazi-Zeit sei ein Akt des Landesverrates gewesen.

Es ist gut, diese Studie jetzt lesen zu können. Sie räumt auf mit den Erzählerchen vom AA als Widerstandshort, gibt am Beispiel des diplomatischen Dienstes ein ungeschöntes politisches Sittenbild der Adenauer-Ära, und sie erklärt unverblümt die Gründe, warum die westlichen Besatzungsmächte ihre Vorbehalte gegen die alten AA-Beamten mehr und mehr fallenließen: Man konnte sich im heraufziehenden kalten Krieg sicher sein, dieses Personal, das noch dazu über Fachwissen verfügte, würde den antikommunistischen Grundkonsens nicht verlassen.

Im AA, so wurde berichtet, habe das von Außenminister Guido Westerwelle persönlich vorgestellte Buch zu „lebhaften Diskussionen“ geführt (Süddeutsche Zeitung). Das heißt wohl auch: Es gibt viele Stimmen dagegen, wahrscheinlich sogar den Vorwurf der Nestbeschmutzung. Darüber muß sich niemand wundern. In ihrem Nachwort berichten die Autoren von „evidenten individuellen Vorbehalten einzelner Mitarbeiter“ des AA-Archivs „gegen den an die Kommission ergangenen Auftrag“. Letztlich könnten sie nicht sicher sein, alle für ihre Arbeit wesentlichen Unterlagen zu Gesicht bekommen zu haben. Der Leiter des Politischen Archivs im AA ist übrigens heute jener Ludwig Biewer, von dem die eingangs zitierte beschönigende Selbstdarstellung stammte. Befördert auf diesen Chefposten hatte ihn Joseph Fischer im Jahre 2003.

Dezember 2010

Zu diesem Thema: Brief des Autors an Außenminister Joseph Fischer 2001