Zweierlei Maß

Truppen auf Kuba und in Venezeula? Wenn Rußland sich dasselbe herausnehmen würde wie die USA

Das Geschrei wird lauter. Rußland bedrohe die Ukraine. Es wolle ein zweites Jalta und seine Einflußzonen in Europa festschreiben. Das aber gehe nicht an. Jedes Land müsse frei wählen können, welchem Bündnis es angehört. Nach dieser Logik soll Rußland die Waffen der NATO direkt an seinen Grenzen akzeptieren.

Auffällig stiefmütterlich haben deutsche Medien die Nachricht behandelt, Rußland wolle die Stationierung eigener Truppen auf Kuba und in Venezuela nicht ausschließen, wenn es die von ihm geforderten Sicherheitsgarantien nicht bekomme. Fast vollständig unterschlugen sie die Aussage des Nationalen Sicherheitsberaters der USA, Jake Sullivan: „Wenn Rußsland sich in diese Richtung bewegen würde, würden wir entschlossen dagegen vorgehen.“

Diesem Vorgang publizistisch Raum zu geben, wäre mißlich für die volkspädagogisch ausgerichteten Redaktionen: Rußland soll die feindlichen Waffen vor seiner Haustür akzeptieren, während die USA den gesamten Erdball in größter Selbstverständlichkeit als Einflußzone beanspruchen. Die Frage soll gar nicht aufkommen, warum hier zweierlei Maß gilt. Ihr würde nur weitere Fragen folgen: Was soll das Ganze? Warum nehmen Regierungen in Europa die Gefahr in Kauf, einen Krieg zu provozieren, der Europa auslöschen kann? Warum riskieren sie es, große Teile Europas von der Zufuhr russischen Erdgases abzuschneiden? Und das mitten im Winter?

„Aktion Ochsenkopf“ reloaded

Kleinkariert und hysterisch: Deutsche Medienaufsicht läßt RT DE vom Satelliten nehmen

Es war eine der dümmsten Aktionen, die in der DDR stattfanden: 1961 nach dem Mauerbau zogen Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) um die Häuser und knickten TV-Antennen ab, mit denen wegen ihrer Ausrichtung offensichtlich das Westfernsehen empfangen wurde. Im Süden der Republik wurde das als „Aktion Ochsenkopf“ bekannt. Denn von einer Sendestation auf dem 1024 Meter hohen Ochsenkopf im Fichtelgebirge versorgte der Westen diese DDR-Region mit seinen Ausstrahlungen. Offiziell lief die Kampagne unter dem Titel „Blitz kontra NATO-Sender“. Eifrig berichtete darüber das Zentralorgan der FDJ „Junge Welt“, während sich „Neues Deutschland“ als wichtigste Zeitung des Landes und auch das DDR-Fernsehen zurückhielten.

Die Bezeichnung „Aktion Ochsenkopf“, könnte, obwohl sicher nicht so gemeint, auch als Anspielung auf die geistige Verfaßtheit des damaligen FDJ-Chefs Horst Schumann (1924 bis 1993) verstanden werden. Jedenfalls spielte er nur wenig später eine unrühmliche Rolle, als die von Erich Honecker (1912 bis 1994) geführte Fraktion in der DDR-Führung mit Moskauer Rückendeckung Liberalisierungstendenzen in der Jugend- und Kulturpolitik mit Vorwürfen wie der Förderung von „Rowdytum“, „Verwestlichung“ und „Pornographie“ bekämpfte. Diese Hysterisierung kulminierte auf dem berüchtigten 11. Plenum des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965.

Warum daran erinnern? Die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MBB) hat am Mittwoch (22. Dezember 2021) erwirkt, daß der Satellitenbetreiber Eutelsat das erst wenige Tage zuvor aufgenommene Programm des russischen TV-Senders RT DE abschaltet. Die formelle Begründung: RT DE habe für sein deutschsprachiges Programm keine deutsche Sendelizenz. Rußland hält dagegen: RT habe eine serbische Sendelizenz und die müsse nach dem „Europäischen Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen“ akzeptiert werden.

Wie auch immer: Die Abschaltung von RT DE, also die technische Verhinderung der Empfangbarkeit dieses Programms, unterscheidet sich qualitativ nicht von der „Aktion Ochsenkopf“ 1961. Sie zeugt von Mißtrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung, Lebensferne, Unsicherheit, Kleinkariertheit und einem hysterisierten Klima politischen Klima, wirkt allerdings – zusammen mit der erneuten Sperrrung eines Youtube-Kanals von RT DE – vorerst flächendeckend. Sie wird aber nicht durchzuhalten sein.

Folgenreiche Eselei

Gorbatschow fiel 1990 auf Roßtäuscher herein. Das rächt sich heute

Michail Gorbatschow war nicht das hellste Licht im Kronleuchter. In Rußland gehört das längst zu den Binsenweisheiten. Eher Traumtänzer als konzeptionell fähiger Reformator, beschleunigte er den Niedergang des Sowjetreiches statt ihn aufzuhalten. Die „Eliten“ des Westens feiern ihn bis heute als „Held des Rückzugs“ (Hans Magnus Enzensberger). Sie konnten ihr Glück gar nicht fassen, als er 1989/90 die Einverleibung des Ostblocks in den Herrschaftsbereich des bisherigen Systemgegeners geschehen ließ und als Anfang einer lichten Zukunft feierte. Wohl nie haben Roßtäuscher ein willigeres Opfer gefunden als ihn. Die Zustimmung zur „deutschen Einheit“ – ohne Mitspracherecht der Ostdeutschen, was die Bedingungen angeht – gab er aufgrund treuherziger Beteuerungen einiger Natschalniks aus dem NATO-Lager.

So sagte Bundesaußenminister Dietrich Genscher am 10. Februar 1990 seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse, der Bundesregierung sei „bewußt, daß die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwerfe“. Für sie stehe aber fest, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen. Und damit die Gegenseite nicht denke, nur das Gebiet der DDR sei gemeint, fügte er laut einem bis 2009 geheimgehaltenen Vermerk über das Gespräch hinzu: „Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.“

Helmut Kohl: „Wir meinen, daß die NATO ihren Bereich nicht erweitern sollte.“ US-Übersetzung des Protokolls jenes Gespräches, das Kohl und Gorbatschow am 10. Februar 1990 in Moskau führten. Es wurde veröffentlicht vom National Security Archive an der George-Washington- Universität, das deklassifizierte Dokumente zugänglich macht

Der 10. Februar 1990 war der Tag, an dem Helmut Kohl in der sowjetischen Hauptstadt verkünden konnte, Gorbatschow habe grünes Licht für die „deutsche Einheit“ gegeben. Zuvor hatte in einem Vieraugengespräch gegenüber dem KPdSU-Generalsekretär beteuert: „Wir meinen, die NATO sollte ihren Bereich nicht erweitern.“

Noch wichtiger. Schon am 9. Februar hatte US-Außenminister James Baker als Vertreter der eigentlichen Machtzentrale des Westens im Gespräch mit Gorbatschow beteuert, die Beistandsgarantie oder „militärische Präsenz der Nato in östlicher Richtung“ werde „um keinen einzigen Zoll ausgedehnt“.

Auch Baker folgte damit der sogenannten Tutzinger Formel, die wiederum auf Genscher zurückgeht. Am 31. Januar 1990 hatte der in der Evangelischen Akademie in Tutzing eine Rede gehalten, deren wichtigster Satz lautete: „Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben.“.

Schriftlich ließ er sich nichts geben, Gorbatschow, der „Held des Rückzugs“, keine Garantie, keinen Vertrag. Die Roßtäuscher-Gang stritt später ab, Zusagen gemacht zu haben. Genscher sagte 2009 dem Magazin „Der Spiegel“, er habe mit seiner Rede in Tutzing der sowjetischen Führung „über die Hürde helfen“ wollen, damit sie einer Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland in der NATO zustimmen könne. Sein Gespräch mit Schewardnadse sei ein „Abtasten“ vor den eigentlichen Verhandlungen gewesen. Und Baker behauptete, seine Formulierung „keinen einzigen Zoll“ habe sich nur nur das Gebiet der DDR bezogen. Gorbatschow selbst stritt 2009 ab, ihm seien Zusagen gegeben worden, es werde keine Osterweiterung der NATO stattfinden. Die Frage habe sich 1990, als der Warschauer noch existierte, gar nicht gestellt. Es war der Versuch, nicht als weltgeschichtlich einmaliger Trottel dazustehen.

Tatsache bleibt: Der Westen hat sich die sowjetische Zustimmung zur deutschen Einheit mit Versprechen erschlichen, die er wahrscheinlich niemals halten wollte. Wladimir Putin hat den Ausverkauf Rußlands und den Abbau seiner Staatlichkeit, der unter Boris Jelzin dramatische Formen angenommen hatte, gestoppt. Das ist sein eigentliches Verbrechen in den Augen der westlichen „Eliten“. Um das Putinsche Rußland kleinzubekommen, nimmt der Westen die Gefahr eines Krieges in Kauf, der Europa unbewohnbar machen könnte. Insofern stellen Gorbatschows Eseleien von 1990 nicht nur für Rußland eine schwere Bürde dar.

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